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Radikaler als andere Intellektuelle

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Eine der bemerkenswertesten Tatsachen der Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts ist wohl jene, daß Elias Canetti, der wie kaum ein anderer Dichter den von den Nazis aufgetürmten Leichenberg vorausgesehen, künstlerisch davor gewarnt und dann lange geschwiegen hat, nach Auschwitz zur Sprache zurückfindet. Canetti hat in den Dramen „Die Hochzeit” und „Komödie der Eitelkeit” sowie im Roman „Die Blendung” zwar nicht die unfaßbare Praxis des Holokaust vorweggenommen, sehr wohl aber dessen zivilisatorische Grundlagen analysiert. Unter dem Titel „Canettis Aufstand gegen Tod und Macht” stand diese Gesellschaftsanalyse denn auch im .Mittelpunkt des achten Canetti-Sym-posions in Wien.

Der mit prominenten Wissenschaftlern besetzten Veranstaltung kommt insofern besondere Bedeutung zu, als sie die erste nach dem Tod des Literatur-Nobelpreisträgers von 1981 war. Es liegt nun ein abgeschlossenes Werk vor, dem nichts mehr hinzugefügt werden kann. Deshalb konnte man sich beim Symposion, trotz vieler Detailarbeit, das erste Mal einer Gesamtschau über das Werk widmen und es auf seine Aussage für die Gegenwart hin befragen. Dabei wurde klar, daß das CEuvre in seiner ganzen Dimension bei weitem noch nicht erschlossen ist, und auch bei der Auswertung des Nachlasses noch Überraschungen auftauchen können.

Ein Grund, warum Canetti nach dem Krieg wieder zum Schreiben gelangt, ist wohl darin zu sehen, daß er den Nationalsozialismus nicht als ein isoliertes Phänomen sah. Noch vor I litlers Machtergreifung war für Canetti ein Zeitalter zu Ende gegangen, nämlich das Zeitalter des unverbrüchlichen Glaubens an die Vernunft, das mit Bene Descartes' „cogi-to ergo sum” begann und im Stürm auf die Bastille vom 14. Juli 1789 seinen historischen Höhepunkt gefunden hat. Deshalb wird für ihn der „Sturm auf den Justizpalast” vom 15. Juli 1927, der für Hilde Spiel ein historisch unbedeutendes Ereignis war, der Endpunkt einer Ära, den andere erst mit Auschwitz gekommen sahen.

An diesem Tag fängt Kant, wie die Hauptfigur Peter Kien in der „Blendung” ursprünglich hieß und Symbol weitabgewandter Vernunft ist, Feuer. Das Verbrennen seiner Bibliothek ist Symbol für den Bankrott einer bestimmten intellektuellen Einstellung zur Welt, der sich verwandelt auch in den Dramen findet. Diese fundamentale Kulturkritik findet bei Canetti auch ihre ästhetische Entsprechung, da sein Boman die Form des Romans ebenso auflöst wie seine Komödie die Form der Komödie. Sämtliche Figuren dieser Werke haben keine gemeinsame Sprache mehr, „keiner versteht und keiner will verstehen”, sagte Canetti über sie. Alle sehen nurmehr sich selbst, auch wenn sie ins Auge des anderen blicken. Das ist die Spiegelmetapher aus der „Komödie der Eitelkeit”. .

Die Ableitung der Identität vom Kopf, wie sie seit Descartes die Geschichte geprägt hat, führte zur Auflösung des Individmtms, das nicht im anderen, sondern in der (möglichst rassenreinen) Masse seine Identität wiederzufinden hoffte - freilich vergeblich.

Im Gegensatz zu Sigmund Freud sieht Canetti auch die Psychoanalyse, die mittels Bewußtmachung des verdrängten Trieb- und Gefühlslebens wieder zu sich selbst führen will, nicht als Lösung. Er parodiert diesen Versuch in der „Komödie der Eitelkeit”, da die Zähmung des Trieblebens durch den Kopf, die für Freud Voraussetzung der Kultur ist, die Vereinzelung nicht aufhebt. „Die Hochzeit” als solche ist für Canetti Symbol für den Versuch der Zähmung des Trieblebens, der mißlingt, weil die Menschen, wie Regisseur Bruno , Schärer anläßlich der Züricher Aufführung des Stückes schrieb, einander „ausschließlich als Objekt ihrer Besitzgier betrachten”.

Canetti war in seiner Faschismuskritik am Beginn der dreißiger Jahre also viel radikaler als sämtliche anderen Intellektuellen, weil er den Nationalsozialismus als grundlegendes Zivilisationsproblem begriff und nicht bloß als eine, wenn auch gefährliche, Ideologie-Spielart. Gerade wegen dieser Badikalität konnte er nach dem Krieg, als Zeichen der Hoffnung, daß der schlimmste Wahn überwunden ist, in scheinbar klassischen Gattungsformen wieder zur Sprache kommen. Seine autobiographischen Schriften sind Zeichen dafür, daß er in der Erinnerung, im Schreiben gegen Tod und Vergessen eine Möglichkeit sah, die Ich-Grenzen zu suchen und zu überwinden.

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