Hegel gegen Beutelratten

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Zum 100. Geburtstag von Elias Canetti.

Seit meinem zehnten Lebensjahr ist eine Art Glaubenssatz von mir, daß ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin, schreibt Elias Canetti in seiner Autobiografie. Es sind gerade die gegensätzlichen Merkmale, die in seinem Wesen aufeinander treffen und den weit gespannten Bogen seines Denkens sichtbar werden lassen: Er ist der Weise und der von fixen Ideen besessene Exzentriker, der Introvertierte und der Weltzugewandte, der Menschenverächter (aus Erfahrung) und der leidenschaftliche Humanist, mit seinem ganz eigenen Prinzip Hoffnung.

Von seiner Herkunft halb Europäer, halb Orientale, ist der sephardische Jude mit türkischer Verwandschaft Kosmopolit geworden, lebte mit britischem Pass in Zürich. In den vielen Ländern, in denen er aufwuchs, hat er sich nicht nur die Sprachen angeeignet, sondern auch die Lebensformen. Er hätte ein Gelehrter in Oxford oder ein Märchenerzähler in einem Basar sein können; er passte in ein Wiener Caféhaus, und die jungen Künstler dort standen ihm genauso nahe wie die Vorstadt-Strizzis, deren Dialekt, deren Gewohnheiten ihm vertraut waren.

Sprach-Voyeur

Sein ganzes Leben war er ein unersättlicher Ohrenzeuge, mit einem untrüglichen Gespür für die richtigen und die falschen Töne, immer gespannt auf den Augenblick, wo sich die Sprechenden durch ihre Sprache selbst verraten. Von Kind auf war er süchtig nach dem Stimmengewirr, das ihn von Anfang an umgab. Die fremden Stimmen und die eigene sind in seinem Werk auf merkwürdige Weise eins geworden. Wer ihn einmal bei der Lesung seiner "Komödie der Eitelkeit" erlebt hatte, kannte den Schauspieler von höchsterVerwandlungskunst, der Tonfälle in grotesker Übertreibung imitierte, nachäffte - eine Begabung, die er auch privat mit großem Vergnügen einsetzte, wenn er unliebsame Anrufer mit verstellter Stimme abwies, krächzend wie eine alte Wiener Hausbesorgerin: Der Canetti is ned zu Haus.

Hinter der unverkennbaren Lust des Sprach-Voyeurs verbarg sich allerdings eine ernsthafte Absicht: das Gehörte zu speichern, es mitzuteilen und damit der Vergänglichkeit zu entreißen. Wie überhaupt Canettis eigentliche Obsession darin bestand, alle seine Erfahrungen mit der Welt, das scheinbar Wichtige und das scheinbar Unwichtige aufzubewahren und zu überliefern in seinem Werk: Die Abenteuer des Lesens, die für ihn immer gleichbedeutend waren mit den Abenteuern des Lebens; den Stoff, den er aus seinen Gesprächen mit Menschen gesogen hat, die sich ihm alle bis ins Innerste öffneten und damit auf seine fast magischen Fähigkeiten des Zuhörens und Verstehens reagierten. Wo bei all dem angeeigneten fremden Leben, den wechselnden, schillernden Identitäten seine eigene Identität greifbar wird, darüber rätseln die Literaturwissenschaftler bis heute.

Was Claudio Magris (neben Susan Sontag einer der wenigen Canetti ebenbürtigen Interpreten) zu dessen Autobiografie anmerkt, dass sich in ihr "tarnend ein ungeahntes Anderssein verbirgt, eine nicht greifbare und nicht vorstellbare Identität", gilt für Canettis ganzes Werk. Er war immer zugleich präsent und entzog sich. Geheimnis und Wahrheit liegen bei ihm beieinander ...

Anti-Freudianer

Ein Autor wie Elias Canetti - über Jahrzehnte verkannt und erfolglos - das ist ein beispielloser Fall in der Literaturgeschichte. Seine (Wieder-)Entdeckung begann mit der Neuauflage des Romans "Die Blendung" im Jahr 1963, zuerst erschienen 1935 in Wien. "Die Blendung", heute wieder gelesen, wirkt nicht wie der Erstling eines knapp Dreißigjährigen, sondern wie ein Alters- und Spätwerk. Unerhört illusionslos, verstört und verstörend formuliert Canetti dort bereits seine Einsichten in die menschliche Natur. Er tut es in Form einer Psychopathologie des alltäglichen Wahnsinns. Es ist eine Welt des Verschlingens und Verschlungenwerdens. Aggressionen und Projektionen, Angst, Neid, Verschlagenheit, Ausbeutung und alle Spielarten von Macht ruinieren das menschliche Zusammenleben. Der Anti-Freudianer und eingeschworene Gegner der Psychoanalyse erweist sich schon da als einer der größten Psychologen nach Freud - eine Rolle, die er später mit wachsendem Stolz und Selbstbewusstsein auf sich nahm. Man setzt mir zu, schrieb er in einer Aufzeichnung, den Hauptschlag gegen Freud zu führen. Kann ich das, da ich doch dieser Hauptschlag bin?

Menschenbeobachter

Für seine Aufzeichnungen "Die Provinz des Menschen" hatte sich Canetti vorgenommen, in einer Art von Glückseligkeit die freiesten Dinge niederzuschreiben. Die Gegenstände, die er hier behandelt, lassen sich nicht alle aufzählen. Man kann nur einen kursorischen Überblick geben: In den frühen Aufzeichnungen stehen die existenziellen Folgen des Exils, das Erlebnis des Krieges von außen im Vordergrund; der zweite Abschnitt fällt in die Zeit der Niederschrift von "Masse und Macht"; der dritte lässt sich überhaupt nicht in einen bestimmten Themenkreis einordnen. Es sind groteske Einfälle, fremdartige, übernächtigte Gedanken, kleine Dramen und Romanfragmente, in denen die bodenlose Fantasie, die bodenlose Komik der "Blendung" wiederkehrt und schließlich Erkenntnisse über das Alter. Es sind Bilder vom Leben, nicht nur wie es ist, sondern auch, wie es sein könnte; das Element der Hoffnung ist darin unverkennbar. Kein Dummkopf und kein Fanatiker wird mir je die Liebe nehmen für alle, denen die Träume beschattet und beschnitten sind. Der Mensch wird noch alles und ganz werden.

Canettis Menschenbeobachtung verzichtet auf alle Theorie, beruft sich ausschließlich auf die Wahrnehmung konkreter, oft übersehener Einzelheiten. Seine Erkenntnisweise ist deskriptiv, phänomenologisch, nie analytisch. Voraussetzungslos will er die Welt so betrachten, wie sie vor ihm noch keiner gesehen hat. Die Offenheit seines Denkens, sein Widerwillen gegen geschlossene Systeme und ihre hermetische Sprache (für menschliche Dinge muß eine menschliche Sprache gefunden werden, schreibt er einmal), sind heute, da die Ideologien zerfallen, seltsam aktuell geworden. Seinen radikal subjektiven Ansatz, an dem Canetti hartnäckig festhielt, mit jener "Verstocktheit", die er an Kafka so bewunderte, hat man ihm früher, als man die darin begründete Einmaligkeit und Unerschöpflichkeit seines Denkens noch nicht erkannt hatte, oft vorgeworfen.

Vor allem im Hinblick auf "Masse und Macht". Wie er dort seine lebenslang gesammelten Fundstücke aus dem Bereich der Anthropologie, der Ethnologie und Mythologie mit seinen eigenen Erfahrungen vermischt, willkürlich gewiss, aber mit der Willkür eines Dichters, galt als anstößig. Es überrascht, wenn er den Massensymbolen aus der natürlichen Sphäre, also Meer, Fluss, Regen, Wind, menschliche Eigenschaften, Affekte zuschreibt. Aber gerade diese anthropomorphe Sicht macht die Schönheit der poetischen Bilder aus: Das Meer schläft nie.

Ein "Skandalon" nannte Adorno dieses Verfahren in einem Gespräch, das Canetti und er geführt haben. Dieses Gespräch ist die Parodie eines Gelehrtendisputs und ein kleines absurdes Theaterstück. Da gerät das Haupt der Frankfurter Schule hörbar aus der Fassung (was wohl selten sonst geschah), wenn Canetti den Verweis auf Hegel höflich, aber insistierend mit den Verhaltensweisen australischer Beutelratten kontert ...

Grotesker Satiriker

Canetti lag als Satiriker die Zuspitzung ins Groteske, vor allem in der "Blendung" und in seinen Theaterstücken. Aber das ist nur die eine Seite seines Werks. Der Satiriker zeichnet ein verzerrtes Bild der Welt, weil er sie so, wie sie ist, nicht erträgt. In seinen Aufzeichnungen "Die Provinz des Menschen", die in ihrer fragmentarischen Form dem sprunghaften, zentrifugalen Denken Canettis entgegenkommen, entsteht aus den einzelnen Bruchstücken und Phantasien ein Gegenentwurf zur Realität. Canetti glaubt an die Möglichkeit einer Gesellschaft, in der sich die Machtstrukturen auflösen (nur darum hat er sie so ausführlich beschrieben) und wir alle unsere Unschuld wiedergewinnen, eine Unschuld, die bisher nur den Tieren nicht verlorengegangen ist.

Zwar schreibt Canetti am Ende des ersten Bandes seiner Autobiografie: Es ist wahr, daß ich wie der früheste Mensch durch Vertreibung aus dem Paradies erst entstand, aber in seinem Werk hat er nie aufgehört, dieses irdische Paradies zu suchen und es sich vorzustellen. Seine Feindschaft gegenüber dem Tod (über die, je nachdem, gerätselt oder gelächelt wurde), bedeutet ja nichts anderes, als die Hoffnung auf Erlösung ganz ins Diesseits zu verlegen.

Wie Canettis irdisches Paradies aussieht? Alterslos müssten wir sein, unsterblich, ganz ohne Entstellung, leben nur für die reine, unmittelbare Anschauung - ein Zustand, in dem dann die Sprachen überflüssig werden. Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem entsteht; die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese. Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt ...

Der Autor leitet das Nachtstudio des Bayerischen Rundfunks.

Bücher über Elias Canetti siehe Seite 15.

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