6860985-1977_36_11.jpg
Digital In Arbeit

Elias Canettis Autobiographie

19451960198020002020

„Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti ist die „Geschichte einer Jugend“. Sie umfaßt in fünf Teilen „Rustschuk 1905-1911“, „Manchester 1911-1913“, „Wien 1913-1916“, „Zürich - Scheuchzerstraße 1916-1919“ und „Zürich - Tiefenbrunnen 1919-1921“, mithin die ersten sechzehn Lebensjahre, und es ist zu wünschen, daß der Autor diese Arbeit bald fortsetzt: Sie ist literarisch noch weit gewichtiger als das, was etwa Manės Sperber oder Hugo Huppert in jüngster Zeit autobiographisch zum besten gegeben haben, die ja ebenfalls jüdischer Abstammung sind, wie Canetti im östlichen Europa geboren wurden und dann nach Mittel- und Westeuropa kamen.

19451960198020002020

„Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti ist die „Geschichte einer Jugend“. Sie umfaßt in fünf Teilen „Rustschuk 1905-1911“, „Manchester 1911-1913“, „Wien 1913-1916“, „Zürich - Scheuchzerstraße 1916-1919“ und „Zürich - Tiefenbrunnen 1919-1921“, mithin die ersten sechzehn Lebensjahre, und es ist zu wünschen, daß der Autor diese Arbeit bald fortsetzt: Sie ist literarisch noch weit gewichtiger als das, was etwa Manės Sperber oder Hugo Huppert in jüngster Zeit autobiographisch zum besten gegeben haben, die ja ebenfalls jüdischer Abstammung sind, wie Canetti im östlichen Europa geboren wurden und dann nach Mittel- und Westeuropa kamen.

Werbung
Werbung
Werbung

Allerdings war die Familie Canetti wohlhabend und seine Mutter in dominierender Weise literarisch beflissen. Vater und Mutter hatten die Schulzeit in Wien verbracht, schwärmten noch immer vom Burgtheater und wären am liebsten Schauspieler geworden. Der Vater war jedoch kaufmännisch tätig, wie es der Großvater angeordnet hatte, und starb jung an einem Herzversagen. Elias Canetti war damals sieben Jahre alt, die Mutter 27; es gab noch zwei jüngere Brüder.

Wer Elias Canetti als Autor kennt, lernt in diesem Buch die Entwicklungsgeschichte seiner geistigen Konstitution kennen. Sie ist packend dargestellt wie ein Roman, obwohl es nur stellenweise zu dramatischen Wendungen kommt. Doch wird jeder Mensch sofort lebendig, der in dem gezeichneten Lebenskreis in Erscheinung tritt, mit wenigen Sätzen zur Figur gestaltet, in seiner Art dann ein Original, denn der Autor hat als Beobachter die Begabung, das Originelle der Leute zu erfassen, und als Schriftsteller die faszinierende Fähigkeit, es „sprechend“ zum Ausdruck zu bringen. Jeder, der die Galerie der „Fünfzig Charaktere“ von Canetti, „Der Ohrenzeuge“ betitelt, gelesen hat, wird wissen, was hier gemeint ist: Eine solche Charakterskizze hebt Zug um Zug die Wesensunterschiede der Menschen hervor - allemal mit ein paar Sätzen -, und das macht die bunte Vielseitigkeit der Müieuschüderun- gen bei Canetti aus. Sie sind immer intensiv, ohne stilistisch im mindesten zu outfieren, lauter Konzentrate, die sich leicht lesen; man merkt freilich hinterher: Das ausführlich Erzählte hätte sich um keinen Satz kürzer sagen lassen. Die immer spürbare Schreiblust und Mitteilungsfreudigkeit artet niemals in Geschwätzigkeit aus.

„Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer Tür heraus, der Boden vor mir ist rot, und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist.“ Mit der frühesten Erinnerung also setzt das Buch ein; eine halbe Seite später wird erklärt: „Ich behalte es für mich und frage erst sehr viel später die Mutter danach. Am

Rot überall erkennt sie die Pension in Karlsbad, wo sie mit dem Vater und mir den Sommer 1907 verbracht hatte.“ Beleg also, daß hier ein verläßliches Gedächtnis am Werke ist, auf das sich der Autobiograph zunächst jedoch nicht einfach verläßt, das er sicherheitshalber überprüft. Und schon auf dieser ersten Seite wird als maßgebliche Instanz erkennbar: die Mutter. Das Schlußkapitel „Das verworfene Paradies“ beginnt mit ihrer kategorischen Forderung „Das hat jetzt ein Ende!“ und „Du mußt weg von hier“, sowie mit der ebenso vergeblichen wie verzweifelten Abwehr des Sechzehnjährigen: „Ich will nicht weg von Zürich.“ Und es enthält, als Vorgriff, den Hinweis: „Vielleicht war dieses furchtbare Gespräch der Beginn unserer Entzweiung. Als es sich abspielte, empfand ich es keineswegs so.“

Er war der Älteste, die anderen zwei waren „die Kinder“. Er wurde, weit über seine Jahre hinaus, ernstgenommen von ihr und nahm sie im glei chen Sinne ernst. Sie vertraute ihm nahezu alles an, wie auch er ihr mündlich oder - dann, vom Pensionat aus, während sie sich in einem Sanatorium aufhielt - brieflich alles anvertraute: die täglichen, vor allem aber die literarischen und anderen geistigen Erlebnisse. Er war inspiriert von ihr, im besten Sinne des Wortes, doch versuchte sie ihm ein Halt zu gebieten, als sie merkte, daß er unversehens die Grenzen ihres Horizontes überschritten hatte: Für sie war es eine Übertretung, Verfehlung des Richtigen. Man ahnt bereits beim Abbruch dieses ersten Bandes, daß es zum Bruch kommen muß, daß er sich von ihr, die bisher immer sein Halt war, nicht aufhalten lassen wird.

In Bulgarien geboren, unter einer spanisch sprechenden Verwandtschaft lebend, aber mit Eltern, die untereinander deutsch redeten, wurde für den Siebenjährigen Deutsch zur Muttersprache. Wiewohl er inzwischen auch englisch verstand, mußte er es von der Mutter unter härtestem Zwang in einigen Monaten schulreif erlernen, und es ist ein Wunder, daß es glückte. Er merkte eben, ein äußerst frühreifes Kind, daß es sein mußte, und er konnte sie einfach nicht enttäuschen. Bestimmt hat dieser deutschsprachige Erzähler, Dramatiker und essayistisch konzipierende Denker Elias Canetti eine sprachlich einzigartige Entwicklungsgeschichte. Man weiß, daß religiöse Konvertiten es mit den Regeln besonders genau nehmen; Canetti ist ein Sprachkonvertit. Er mußte es beispiellos genau nehmen mit seinem Deutsch, um durchzukommen, und so hält er es bis heute als Siebziger, ein Strenggläubiger des richtigen Ausdrucks, wird jede Aussage bei ihm zum Bekenntnis.

DIE GERETTETE ZUNGE. Von Elias Canetti. Carl Hanser Verlag, München 1977, 378 Seiten, öS 261,80.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung