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Die bitteren Träume

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DIE LEKTION DES JAHRES 1980. Neue Erzählungen. Von Dino Buzzati. Hans-Deutsch-Verlag, Wien-Stuttgart-Basel. 173 Seiten. Preis 74 S. — DIE WOHLTATEN DES MONDES. Erzählungen von Urs Jaeggi. Piper-Verlag, München. 202 Seiten. Leinen. Preis 12.80 DM. — HAUSMUSIK. Ein deutsches Familienalbum. Von Reinhard Baumgart. Walter- Verlag, Olten-Freiburg im Breisgau. 243 Seiten. Preis 15.80 DM. — FROST. Roman von Thomas Bernhard. Insel-Verlag, Frankfurt am Main. 358 Seiten. Preis 18.80 DM.

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DIE LEKTION DES JAHRES 1980. Neue Erzählungen. Von Dino Buzzati. Hans-Deutsch-Verlag, Wien-Stuttgart-Basel. 173 Seiten. Preis 74 S. — DIE WOHLTATEN DES MONDES. Erzählungen von Urs Jaeggi. Piper-Verlag, München. 202 Seiten. Leinen. Preis 12.80 DM. — HAUSMUSIK. Ein deutsches Familienalbum. Von Reinhard Baumgart. Walter- Verlag, Olten-Freiburg im Breisgau. 243 Seiten. Preis 15.80 DM. — FROST. Roman von Thomas Bernhard. Insel-Verlag, Frankfurt am Main. 358 Seiten. Preis 18.80 DM.

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Vom Benjamin dieser Sammlung, den Solothurner Urs Jaeggi, Jahrgang 1931 über den gleichaltrigen, in Holland geborenen Österreicher Thomas Bernard, den un zwei Jahre älteren Breslauer Baumgart, weiter über den in den Reifejahren stehender Dino Buzzati bis zu dem Deutschen, Wahlspanier und Fluchtmexikaner Max Aub, der jetzt das sechste Lebensjahrzehnt vollendete, reicht eine breite Altersfächerung. Gemeinsam ist diesen Autoren die geistige Herkunft aus einem von den Geburtswehen einer neuen Epoche geschüttelten Europa; gemeinsam ist ihnen, an jene verschlossenen Tore zu pochen, hinter denen sich der Sinn des Seins verbirgt, der Versuch, Boden unter die Füße zu bekommen, während dieser Boden dauernd unübersichtlich in Bewegung ist.

Buzzati, ein Klassiker der kurzen, zum Diamanten geschliffenen Erzählung, die stellvertretend für ganze Romane steht, legt den Tiefsinn ebensosehr in die Form wie in den Inhalt seiner Prosakunstwerke, doch ohne daß die Eleganz seiner Gebärde Selbstzweck oder die atemraubende Artistik seiner Zustandsverwandlungen verabsolutiert würde. Diese Gefahr, der große Intelligenzen aus dem Bereich der Latinität seit der Antike häufig unterlagen, besteht für ihn nicht. Dort, wo Kunstmacht für minder kritische Geister zur Routine werdend Erfüllung vorgaukelt, beginnt für ihn erst das Reich des allem Anschein nach schwerelos freien Schwebens. Hier, in der dünneren Luft, fliegt er seinen Pantomimen der Sprache mit höchster Intensität des Geistes in Figuren, deren Köstlichkeit jeden Nerv des Betrachters zum Tönen bringt; hier fliegt er, in jeder Sekunde vom Absturz bedroht, der ihn zerschmetterte, Zeichen, Chiffren als Meister der Durchdringung von Dimension zu Dimension.

Seine Flüge, und jedesmal steigt er aus unserer Mitte, aus unserem Alltag auf, sind Beschwörungen des Unaussprechlichen, Ewigen, des in Worten nicht Faßbaren. Die mehrfach allzu unbedenklich auf ihn angewendete Phrase, er bediene sich surrealistischer Praktiken, sei mit Dali zu vergleichen, trifft den Kern des Phänomens Buzzati nicht. Buzzati hat nicht im Sinn, den Menschen außermenschlichen, nichtmenschlichen oder übermenschlichen Aspekten oder Sphären auszuliefern. Wenn bei ihm Menschen an Wolkenkratzern herabschweben, wenn Zeit und Raum zu wie im Spiel flexiblen Größen werden oder wenn er etwa die Geschichte eines in das Pentagon geschmuggelten Briefes erzählt, dessen Inhalt, eine diabolisch-sophistische Wortformel, jeden Leser auf der Stelle tötet und, über den Rundfunk ausgestrahlt, die Menschheit vernichten könnte, so bedeutet das bei Buzzati immer eine Schau vom Menschen her und zum Menschen hin, eine Schau jedoch, die genial tausend Möglichkeiten ringsum, an die keiner jemals dachte, abtastet, und die Wandlungen, Vexierungen, Zuspitzungen, die sich in und rings um seine Gestalten begeben, die konkaven oder konvexen Spiegel, die er aufstellt, haben nur den einen Zweck, die dämonisch bedrohte Menschenform umso kostbarer, werbend um Einordnung in die große Harmonie der Schöpfung, strahlen zu lassen.

Mit ähnlichem Konzept, doch schwerblütiger und noch mitten im Ringen um die feinere Ausfeilung der Form, vom Wesen her weniger sicher im Goldenen Schnitt des Formen- und Ausdrucksspiels, tritt Urs Jaeggi vor uns hin. Auch seine Geschichten kommen aus dem Werkalltag in dubioser Zeit, treten lautlos in andere Sphären ein, wo sich Sein und Zustand in Formeln von erschütternder Fremdheit verdichten. Das ist so, als liefe die gewohnte Welt unter dem Okular eines starken Mikroskops zu neuen Formen zusammen, als gerönne Realität unter dem Zusatz geheimer Substanzen zu überweltlicher Befindlichkeit. Kraftvoll im Zugriff, poetisch auch mit romantischem Nachklang, konsequent bis zur jeweils letzten Zeile, ist hier eine Stimme am Werk, von der wir nach dieser überzeugenden Leistung eine konstante und redliche Entwicklung erwarten dürfen.

Reichlich umstritten, mit lebhaftem Pro und Kontra bedacht, von manchen modernistischen Einflüssen durchschossen ist Reinhard Baumgarts „Hausmusik". Daß es hier ein Junger unternimmt, die Malaise des deutschen kleinen Bürgertums etwa im Jahrfünft rings um den letzten Krieg wie mittels greller Farbdias an die Wand zu projizieren, verblüfft zunächst, und man ist geneigt, nach der geistigen Vollmacht zu fragen. Dies urtso mehr, als Baumgart ersichtlich übernommene Urteile und Vorurteile und manches erstarrte Denkklischee verwendet, um Menschen und Dinge, die er nicht aus eigener An schauung kennt und einzuschätzen vermag, zu schildern. Und doch, so groß man diese Minuspunkte notieren mag, hinter ihnen hebt sich die Kontur einer Persönlichkeit ab, die das armselige Nachkriegsmaterial gerade durch diese Armseligkeit zu starker Wirkung bringt. Was für Baumgart einnimmt, ist der Verzicht auf Pathos und Belehrung (sonst das Grundübel engagierter deutscher Autoren), ist weiter, daß er nicht in gehobenen Schichten weidet, wo man das Geschehen mehr oder minder schicklich in Worte faßt, sondern daß er unter den Kleinen, unter den Armen im Geiste siedelt, dort, wo Ereignis, Wort und Gedanke unreflektiert eins sind — dort aber zugleich, wo sich Massenschicksal, durch das Gewicht von blinden Anhänger- oder Getriebenenscharen, in unser aller Schicksal überrumpelnd zu verwandeln droht. Er hat in seinem Buch eine Reihe von Stellen, die sich unvergeßbar einprägen und um die ihn mancher Arrivierte beneiden sollte. Ihm könnte, verstünde er die in ihm verborgen harrende Spielfreude zu münzen, eines Tages ein Anlauf auf eine Gestalt glücken, die im Raum zwischen Don Quichotte samt Sancho, Falstaff, Simplicius Simplizissimus und Schweijk zu siedeln wünschte.

Auf Anhieb ein Kunstwerk von hohen Graden zu schaffen ist jungen Schriftstellern nur in raren Ausnahmefällen, die wir alle kennen, man denkt an Rimbaud, Grabbe, Kleist, Hölderlin, Lenau, Trakl, beschieden. Einen solchen Ausnahmefall schuf Thomas Bernhard, dessen Vorfahren Bauern und Dorfbürger im Salzburgischen und Oberösterreichischen waren, der Gerichtsberichter und Bibliothekar war und in Wien und Salzburg Musik studierte. Der Verweis auf die Frühvollendeten ist ebensowenig nebenhin zu nehmen wie die Stichworte seines Lebenslaufes. Ersterer reiht ihn zu den Trägern einer tragischen Gebärde, letztere umfassen ebenso viele Matrizes seiner raschen Entwicklung, wie sich gleich zeigen wird.

Das Gebirgsdorf Weng ist der Schauplatz, das hochvirulente Ambiente eines geistig-seelischen Geschehens, in dessen Verlauf ein Kranker, an sich und der Welt leidend, sich dem Chronisten, diesen in Schüben sich anverwandelnd, bis zum „Diluviumszerfall des einzelnen", zum unausweichlich kommenden Ende mit Schrecken, eröffnet. Die Dörfler alle, in ihrer unbarmherzigen Kontrastfunktion, könnten Bernhards Ahnenkette entnommen sein; ja es scheint, als fühlte er, seine und seines passiven Helden Not zu wenden, die Notwendigkeit, sich der Herkunftsmatrix mit Scharfrichtervollmacht zu entledigen — ein Beginnen (Scharfrichtervollmacht ginge mit der Urteilskühnheit des Gerichtsberichters überein), das vergeblich bleiben muß.

Damit ist der Handlungsgang umschrieben; mehr geschieht nicht; dies aber begibt sich, mißt man die Abfallkurve, in Kongruenz zur nämlichen Kurve einer klinischen Pathologie eines Persönlichkeitszerfalls, wobei der Chronist und sein Klient, dieser Klient und der Chronist als sein schließliches Opfer, aus der Vogelschau in eins zusammenfallen. Mehr geschieht nicht; doch das Wie ist entscheidend, in leidenschaftsheißer Sprache, die, gleichsam mathematisch gebändigt, durch den Kalkül musikalischer Formeln diszipliniert, eine in der jüngeren deutschen Prosa selten auch nur annähernd erreichte Stoßkraft erhält.

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