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Hüter der.Verwandlungen

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1 n der Münchner Rede „Der Beruf des Dichters" aus dem Jahre 197 6 bezeichnet Elias Canetti den Dichter als den „Hüter der Verwandlungen" und als einen Menschen, der heute mehr denn je „Verantwortung" trage für das Unheil der gegenwärtigen Weltlage. Canetti denkt mit Unbehagen an die Zeit zwischen den Weltkriegen, in der Selbstgefälligkeit upd Verachtung der Wirklichkeit.zuden Allüren des Dichters gehörten und „das Weghören" als angemessene geistige Haltung gepflegt wurde. Er entwirft das Bild eines Dichters

der zu Verwandlungen anregen soll und aus der Tatsache, daß „Kriege, nämlich für Sieger wie Besiegte, widersinnig und darum unmoglich sind", folgert, es müsse in anderen Dimensionen als bisher gedacht, gefühlt und gehandelt werden. Verwandlung, die der Dichter bewirken sollte, bedeutet mehr als bloßes Anderswerden, es meint eine neue Lebensform und die Wiederentdeckung verlorengegangener menschlicher Möglichkeiten; Verwandlung ist Einfühlung und Empathie, sie ist die Fähigkeit, sich · mit der gesamten geistigen und körperlichen Existenz in einen anderen Menschen zu versetzen, in einer „ruhelosen, durch kein System verkümmerten oder gelähmten Weise". Verwandlung hedeutet aber auch, sich den Sachzwängen zu widersetzen, sich nicht abzufinden mit den die Natur und die Menschen zerstörenden Prozessen von Wirtschaft und Wirtschaftswachstum.

In der wahnhafteri Fixierung einer einseitigen Denkweise, in der Anbetung einer ständig auf Steigerung erpichten Produktion, in der Verfestigung einander bekämpfender ideologischer Systeme erkannöstliche

te Cänetti den totalen Starrkrampf der geg,enwärtigen Welt. Einer solchen Welt"muß der Dichter widersprechen, er hat die „Vorstellung von der Variabilität menschlicher Sitten und Möglichkeiten" wachzuhalten und die Abenteuer der Verwandlung ins Bewußtsein zu. rufen„ Denn: Verwandlung und Erstarrung $i.nd in verschiedener Weise auf das Phänomen der Macht bezogen. Machthaber führen einen ständigen Kampf gegen Verwandlungen, sie sind auf „Ehtwandlung" bedacht, auf Gehorsa.m und Festlegung. Sobald die Welt auf die Gesetzeder:M achtausübungredu????iert und· in ein politisches oder wirtschaftli; hes System gepreßt ist, scheint der Reichtum ihrer En>cheinungsf ormen. ·störend und muß beseitigt werden.

rn:e totalitären . Machthaber leben nicht nur in totalitären. Systemen. Auch in den westlichen Industriestaaten verselbständigt sich der Produktionsprozeß über die Köpfe der ;E>olitiker hinweg zu einem Machtapparat, dessen Zweck es ist, leblose und lebende Güter ununtl;!rbrochep ip ungeheuren Mengen zu erzeugen. Umfürdieungeheminte Vervielfältigung von Waren Käufer zu finden, werden ständig Bedürfnisse geweckt, deren Befriedigung wieder neue Bedürfnisse erzeugt.

Dieses geschlossene System zwanghafter Produktion kann nach den Gesetzen der Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, nicht mehr aufgesprengt werden. „Das Gefährliche an der Technik ist, daß sie ablenkt, von dem, was den Menschen wirklich ausmacht, von dem,

was er wirklich braucht". Das kalt Technische eines solchen Wissenscliaftsbetriebes, in dem die Religion des Konsums sich zur „Religion des Tötens" steigert, ordnet Dinge u:nd Lebensweisen in ein System ein, das in der Vorbereitung ????fferitlich gepl;m????er Kri,ege seine Liturgie entfaltet. Verwandlung müßte .dieses schreckliche System mit. List und Geduld hintergehen; Verwandlung ist eine Verweigen.mg der Anpassung:

"Lust auf Erfahrung anderer von innen her dürfte nie von.den Zwekken bestimmt sein, aus denen unser ·normales, sozusagen offizielles Leben besteht, sie müßte völlig frei sein von .einer A.bsicht auf Erf9lg oder Geltung, eine Leidenschaft für sich, eben die Leidenschaft der Verwandlung. Es würde.ein immer offenes Ohr dazugehoren, doch wäre es damit allein nicht getan, denn eine Übe????ahl der Menschen heute ist des Spre:hens kaum: mehr mächtig, sie .äUßern sich i????. den Phrasen det Zeitungen und öffentlichen Medien und sagen; ohne wirklich dasselbe zu sein, mehrund m.ehrdassel????e. Nur.dUfCh VE!nv:anp???? lung in dem extremen Sinn, iri dem das Wort hier gebraucht wfrd, wäre es möglich zu fühlen, was ein Mensch hinter seinen Worten ist, der wirkliche Bestand dessen, was an Lebendem da ist, wäre auf keine andere Weise zu erfassen. Es ist ein geheimnisvoller, ir. seiner Natur noch kaum untersuchter Prozeß und doch ist es der ein:;r;ige wahre Zugang zum anderen Menschen. " (Münchner R'ede 197 6)

Nach Canettis Überzeugung kann die heilende Kraft der Verwandlung

erworben werden durch die Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, durch das Vorbild der Verwandlung bei den Naturvölkern und durch die Reaktivierung dieser vergessenen, durch die Zivilisation verschütteten men????chlichen,Möglichkeit im Dichter. In dieser literarischen Tradition ist aufbewahrt, was in de·: menschlichen Evolution einmal eine bedeutsame Rolle gespielt hat und in.den Märchen und Mythen, aber auch in den großen weltliterarischen Zeugnissen weiterlebt. Canetti ist fasziniert von Enkidu aus dem Gilgainesc. h-Epos, der sich vom Natur- ,zu einem Stadt- und Kulturmenschen wandelt; von früher Jugend 'ari begleitet Canetti die Gestalt des Odysseus, der als Gegenbilc;l die Struktur der „Blendung" bestimmt. Die Komödien des Aristophanes führen „die äUe-sten Verwandlungen vor, das Verwandeln selbst", den ständigen Übergang vom Menscheri- zum Tier und vom:Tier zum Menschen; in Ovids „Metamorphosen" werden Verwandlungen „zu anschaulichen Prozessen", denn Övid hat für die christliehe Weft das.gerettet, ;,was ihrem Bewußtsein am meisten verlorengegangen war. Ihrer hierarchisch ers.tarrenden Leere; ihrem ·schwerfälligen System von Tugenden und Lastern, hauchte er den älteren, befreienden Atem der Ver- , wandlungen ein". Verwandlung heißt, bereit sein für die unerwarteten Sinnmöglichkeiten, die in allem stecken. Das Gegenbild dazu ist Abschließung und Erstarrung; alles Tätigkeiten, die der SystemDenker Aristoteles in sich vereint,

dessen traumlose Nüchternheit „Begeisterung und Verwandlung des Menschen" ausschließt

Auch die mythischen Erzählun- · gen sind für Canetti eine Bestätigung für die Verwandlungs-Fähigkeiten von Naturvölkern. In einem Bericht über „Buschmann-Folklore", derin ,,Masse und Macht" referiert wird, heißt es, daß die Buschmänner Begegnungen mit ihnen nahestehendenMenschen, aber auch die Annäherung von Tieren, die als Jagdbeute für sie wichtig sind, vorausfühlen und in ihrem eigenen Körper spüren, obwohl Mensch oder Tier weder in Sichtnoch in Höl"\\'.eite sind. Einfühlung und Ahnungsvermögen werden zu sinnlich-körperlicher Erfahrung. Der Bericht über die Buschmänner ist gleichzeitig ein Hinweis auf die Verwandlungskraft des Dichters, der in sich das ·Leben vieler Menschen zu tragen hat und in ihnen aufzugehen vermag, ohne die eigene Identität atifzugeben.

Elias Canettti ·versucht als Augen- und Ohrenzeuge starre, weltund menschenzerstörende Herrschaftsformen zu durchdenken und darzustellen. Neben den drei autobiographischen Büchern („Die gerettet ???? Zunge", „Die Fackel im Ohr" und „Das Augenspiel") hat er sich vor allem in sefaen „Aufzeichnungen" und in der Essay-Sammlung „Das Gewissen der Worte" über die Bestimmung des Dichtens und über die geü;tige !?i tuation der Zeit geä ußert. Diese Bücher sind sowohl Einleitung als auch Selbstkommentar zu seinen literarischen Hauptwerken „Die Blendung", „Die Komö- . die der Eitelkeit" und „Masse und Macht". Masse und Macht sind Schlüsselbegriffefürihn, ihrer Analyse widmete.er viele Jahre seines Lebens und er hofft, daß es ihm mit dieser Lebensarbeit gelungen · ist, unser machtbesessenes Jahrhundert „an der Gurgel zu packen".

Der Autor ist ordentlicher Professor am Institut fürGennanistikan der Universität Innsbruck.

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