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Romanfiguren laut werden lassen

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In Literaturlexika steht er bereits als einer der wichtigen Repräsentanten österreichischer Dichtung verzeichnet: als einer der Prominenten, deren Werke In der BRD verlegt werden, die Romane etwa bei Hanser; Essayistisches erschien bei Ciaassen (wie „Masse und Macht“). Elias Canetti, knapp 65, österreichischer Staatspreisträger 1967, aus Rustschuk in Bulgarien gebürtig und als Student über Zürich und Paris nach Wien gekommen, ist ein Wiener besonderer Art, in dessen Artikulation sich freilich in den nun 31 Jahren seiner Emigration nach London ein Hauch englischer Färbung eingeschlichen hat. Er ist eben für zwei Wochen in Wien, um die Erstaufführung seiner „Hochzeit“ im Volkstheater zu sehen, Freunde zu besuchen und In der Literaturgesellschaft aus seinem neuesten Essayband zu lesen.

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In Literaturlexika steht er bereits als einer der wichtigen Repräsentanten österreichischer Dichtung verzeichnet: als einer der Prominenten, deren Werke In der BRD verlegt werden, die Romane etwa bei Hanser; Essayistisches erschien bei Ciaassen (wie „Masse und Macht“). Elias Canetti, knapp 65, österreichischer Staatspreisträger 1967, aus Rustschuk in Bulgarien gebürtig und als Student über Zürich und Paris nach Wien gekommen, ist ein Wiener besonderer Art, in dessen Artikulation sich freilich in den nun 31 Jahren seiner Emigration nach London ein Hauch englischer Färbung eingeschlichen hat. Er ist eben für zwei Wochen in Wien, um die Erstaufführung seiner „Hochzeit“ im Volkstheater zu sehen, Freunde zu besuchen und In der Literaturgesellschaft aus seinem neuesten Essayband zu lesen.

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Canetti arbeitet natürlich an neuen Projekten: „Sogar an fünf oder sechs zugleich, die aber doch mehr oder minder um ein gedankliches Zentrum kreisen. Um eine Art neue Romantheorie, der-zufolge Drama und Roman synthetisiert werden. Wissenschaftlich-theoretische Elemente, Essayistisches, Erzählendes, das selbstverständlich nichts mit einer konventionellen Story gemein hat, verwachsen da. Ich halte dies für den Weg der Literatur überhaupt.“ Es ist eine Methode, die „Romanfiguren laut werden zu lassen“. Realisierbar wurde dieser Entwicklungsgedanke freilich nur aus Canettis Sicht von der „Einheit des Schaffens“: Er selbst verweist gern auf die Verwandtschaft seiner dichterischen Arbeiten mit den theoretischen, in denen er stets auch über die Wechselbeziehungen sich Klarheit zu verschaffen trachtet. Wie etwa in seinem Buch „Der andere Prozeß“, das im Herbst 1969 in der Hanser-Reihe erschien: „Ein literarischer Essay über die Tragödie Kafkas, allerdings mit einer unkonventionellen Interpretation. Neu ist die Genese des .Prozesses', die ich als Gegengewicht zu Kafkas religiösen Problemen, auch zum Machtproblem, verstehe. Kafka versucht sich in seinen .Gestalten' stets durch einen .Prozeß' der Übermacht zu entziehen, das heißt durch Verwandlungen in Insekten usw. ... Neu sind übrigens auch die kritische Durchleuchtung der Briefe der Milena und die Berücksichtigung verschiedener Phänomene aus der chinesischen Literatur“.

Auf eine Kritik an Max Brods 1969 gehaltenen Vortrag über Kafka und das Buch „Das Unzerstörbare im Menschen“ hin, massiert Canetti Angriffe dagegen:

„Unerträglich sentimental, rein menschliche Deutung des Freundes, ohne genügend literaturkritische Einstellung, Vernachlässigung wichtiger Quellen“.

Wir streifen das Thema „Sprache“, zu der Canetti eine spezielle Einstellung bezieht. In seinem Roman „Die Blendung“ (1936), in den Dramen „Die Abschaffung der Eitelkeit“ (1950) und „Die Befristeten“ (1956) vollzog er konsequent seine Ideen von Sprache, die er aus dem Studium von Ari-stophanes, Nestroy, Karl Kraus entwickelt hat. Durch Kraus ist sie ihm „bewußt“ geworden. Von diesem leitete er sein Modell von der „akustischen Maske“ des Menschen wie vom „dramatischen Charakter aus der Sprechweise“ ab.

Sprache ist immer Basis. Sie initiiert die „Auskristallisierung, den Bau einer neuen Welt, sie spendet neues Licht“.

Canetti hat sich stets zum gedanklichen (selten zum formalen) Experiment bekannt. Er befaßt sich daher auch mit der neuesten Literatur Österreichs wie Englands. Und er versucht, unsere Dichtung „drüben“ bekannt-zumachen. Vor allem die von Thomas Bernhard, der erst vor kurzem übersetzt wurde; ebenso von Erich Fried, von dem im Vorjahr ein Werk in der BBC gesendet wurde.

Die Unterschiede zwischen der Avantgarde Österreichs und Englands findet Canetti beträchtlich: „Die Jungen sind dort — die Dramatiker ausgenommen — konservativer, weniger lebendig. Sie neigen weniger zum provokanten Experiment.“ Wie hier die Wiener Gruppe, für die Canetti sich besonders interessiert.

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