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Das Seltsame im Alltag

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Leser der Bücher von Elias Ca- netti kennen selbstverständ- lich Veza Canetti (1897-1963): Seit einem Vierteljahrhundert hat er sei- ner verstorbenen Frau fast alle sei- ne Werke gewidmet; außerdem er- zählt er im zweiten und dritten Teil seiner Lebensgeschichte ausführ- lich von ihr.

„Die Fackel im Ohr" berichtet vom „17. April, der wirklich ein großer Tag für mich geworden war, denn an ein und demselben Ort traten die beiden Menschen in mein Leben, die es auf lange hin beherr- schen sollten": Es war der Abend, an dem Elias Canetti zum ersten- mal eine Vorlesung von Karl Kraus besuchte, und dort wurde er seiner späteren Frau vorgestellt. Sie war „die fremdartigste Erscheinung in diesem Publikum", saß „immer in der ersten Reihe", aber: „Sie klatschte nie", hingegen er „blieb stehen und applaudierte, bis mich die Hände schmerzten."

Das muß 1925 gewesen sein; erst 1934 haben sie geheiratet. Daß sie auch geschrieben und sogar publi- ziert hat, erwähnte Canetti nicht.

„Die gelbe Straße" von Veza Canetti ist zweifellos einer der ori- ginellsten Wien-Romane. Er wur- de um 1930 konzipiert und in Fort- setzungen von der „Arbeiter Zei- tung" veröffentlicht. Die Autorin hat die fünf Teile „mit geringfügi- gen Änderungen" nachträglich zum „Roman einer Straße" zusammen- gefügt, er sollte in Buchform 1934 erscheinen, doch wurde das infolge der blutigen Februarereignisse unmöglich gemacht. Obwohl der Text nicht „politisch" genannt werden könnte, war er durch den Vorabdruck in einem mittlerweile verbotenen Blatt diskriminiert. Nun kommt diese Prosa, rund sechzig Jahre nach ihrer Entstehung, in dem Großverlag heraus, der das Gesamt- werk des Nobelpreisträgers betreut, und es stellt sich eine naheliegende Frage, auf welche die verblüffend- ste Antwort zu geben ist.

Es wäre nämlich glatter Irrtum, zu glauben, daß Veza Canetti als Autor eine Art Epigone des nach- maligen Gatten war: Bei allem Rie- senrespekt vor dem großen Stili- sten muß man sagen, daß es sich beinahe umgekehrt verhält. In sei- nem Vorwort zu dem Roman, das überhaupt auf viereinhalb Seiten eine absolut gültige Rezension des Werkes vorstellt, schreibt Elias Canetti zutreffend: „Veza hatte Bewunderung für abseitige Natu- ren."

Wie sie die Figuren sieht und schildert, das erinnert an die kleine Sammlung „Der Ohrenzeuge" von Elias Canetti aus dem Jahr 1974, also vierzig Jahre nachdem der Roman von Veza Canetti nicht ediert werden konnte.

Es geht um die Ferdinandstraße im zweiten Wiener Gemeindebe- zirk, wo sie wohnte, und „um Leu- te, die sie kannte", aber „alle ihre Figuren wirken, als wären sie er- funden. Zu jeder einzelnen von ihnen fällt mir, ... das Vorbild ein, aber ich hätte jede von ihnen ver- gessen, wenn sie sie nicht auf ihre spitze, springende Weise erfunden hätte.

DerUnhold", „Derlger", „Der Kanal", „Der Tiger" und „Der Zwinger" heißen die fünf Ab- schnitte, und schon diese Über- schriften deuten an, daß und wie da die Realität gedeutet wird. Es sind lauter Charakterzeichnungen. Das Handeln jedes Stärkeren wird leicht zur Mißhandlung des Schwäche- ren. Der Alltag besteht aus Tätern und Opfern, doch weil das alltäg- lich passiert, wird es übersehen. Man könnte es durchaus sozialkri- tisch nennen, was Veza Canetti protokolliert, unter die Lupe ge- nommen. Trotzdem wäre der Aus- druck linkisch und mißverständ- lich. Es ist kein Klassenkampf, denn er spielt sich nicht bloß zwischen Reichen und Armen ab, auch die Begüterten und die Ärmsten unter- einander versuchen, einander zu unterdrücken und zu benachteili- gen.

Ein Episodenroman, mit zahlrei- chem, teils wechselndem, teils wie- derkehrendem Personal. Schon im ersten Kapitel, „als die Runkel im Kinderwagen über die Straße ge- führt wurde, überkam sie eine sol- che Verzweiflung über ihr elendes Leben", daß sie sich den Tod wünschte. „Nur zermalmte dieses Motorrad nicht die Runkel, son- dern das Dienstmädchen Rosa ", das den Wagen geschoben hatte. Die Runkel besitzt zwei Geschäfte, die einander genau gegenüberliegen, sodaß die hilflos Verkrüppelte bei- de unnachsichtig überwachen kann, und erst im Schlußabschnitt geht sie zugrunde, diesmal ohne es ge^ wünscht zu haben.

Besonders merkwürdig an dem Buch: Es verurteilt nie. Die Beob- achterin sieht alles und sieht ein, daß sie alle nicht anders können, die wenigen Guten und die vielen Unguten. Übrigens, aber nicht unwichtig: ein historisch authenti- sches Vorstadtpanorama von einst, so wie es damals geleibt und gelebt hat.

DIE GELBE STRASSE. Von Veza Canetti Verlag Carl Hanser, München/Wien 1990. lr>8 Seiten, öS 232,40.

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