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Leere Kapseln . . .

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Als Hermann Broch 1936 50 Jahre alt wurde, hielt der damals 31jährige Elias Canetti in Wien einen Vortrag, in dem er aus diesem Anlaß mit geradezu verbissenem Nachdruck eines seiner Standardthemen anschlug: die Problematik des Todes. Es ist dies auch das Thema der vor 15 Jahren entstandenen Szenenreihe „Die Befristeten“, die Im Jahre 1956 in Oxford in englischer Übersetzung uraufgeführt wurde und nun im Kleinen Theater der Josefstadt zur Erstaufführung der deutschen Originalfassung gelangte.

In zahlreichen, nur gering verknüpften Dialogszenen zwischen je zwei Personen zeigt Canetti, wie es sich auswirken würde, wenn jeder Mensch wüßte, wie alt er wird. Die Prädestinierten, die Befristeten, tragen eine Kapsel bei sich, in der angeblich das vorgesehene Alter verzeichnet wurde; erst nach dem Tod öffnet sie der „Kapselan“. Außerdem ist jeder nach seinem Alter benannt, Herr Fünfzig etwa wird 50 Jahre alt. Der Kapselan behauptet, diese 50 sicheren Jahre seien mehr als eine unibestimmte Zahl unsicherer.

Mit logischer Konsequenz wandelt Canetti die möglichen Situationen ab, die sich aus seinen Voraussetzungen ergeben. Er verfügt über eine reiche Phantasie, aber es äst nicht die Phantasie eines Dichters, sondern die eines Erfinders am Reißbrett, eines Forschers. Wie der Mathematiker mit imaginären Zahlen rechnet, so setzt Canetti die imaginäre Größe Tod in seiner Versuchsreihe ein. Konsequente Folge: Die vorgeführten Gestalten sind kaum Menschen, können es in diesem nahezu abstrakten Spiel nicht sein, es sind Rechnungsgrößen, die Dialoge führen.

Aber der Mathematiker des Todes begeht dann doch Rechenfehler. Es wird behauptet, diese Menschen haben keine Angst, weil sie wissen was ihnen bevorsteht. Das aber stammt nicht, das wissentlich Befristeta erschreckt mehr als die Unsicherheit, die Hoffnungen offen läßt. Als Herr Fünfzig mehrere Kapseln öffnet, die sich als leer erweisen, und das Volk dies erfährt, glaubt niemand mehr an die amtlich festgelegte Lebensdauer, es ergibt sich die Gerechtigkeit von vordem, daß jeder im nächsten Augenblick tot sein kann. Unberechtigte Annahme des Autors war es, daß diese Menschen deshalb starben — und zwar alle — weil sie daran glaubten. Was nun Canetti Szene für Szene zeigt, äst die seelische Dürre, die durch die vermeintliche Sicherheit geplanter Lebensdauer —r im Zeitalter der Planungen! — entsteht. Daß der Tod aber auch für Menschen, die nur das Endliche sehen und annehmen, ein darüber hinausreichendes Ereignis ist, diese metaphysische Dimension bleibt uns Canetti schuldig.

Friedrich Kallina gelingt es als Regisseur erstaunlich gut, die errechneten Gestalten zu verlebendigen. Eine beachtliche Leistung. Unter den 23 Darstellern ist Michael Toost ein beherrscht-intensiver Herr Fünfzig, Fronz Gary gibt dessen Freund warme Menschlichkeit, wozu — in diesem Fall — Ansätze vorhanden sind, Guido Wieland zeichnet kaltsachlich den Kapselan. Gottfried Neumann-Spallart verbindet in seinem Bühnenbild Abstraktes mit Surreaiem.

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