7051632-1991_03_08.jpg
Digital In Arbeit

Früchte eines Feuers

Werbung
Werbung
Werbung

Wie ein Bergmann arbeitet sich Gerald Stieg in die tiefsten Schichten eines Ereignisses der österreichischen Geschichte vor und legt seine weit über Österreich hinausreichende geistesgeschichtliche Bedeutung frei. Wie kaum ein anderes historisches Datum hat der Brand des Justizpalastes in Wien am 15. Juli 1927 emblematischen Charakter: An diesem Tag ist die Arbeitermasse führerlos und damit unkontrolliert als handelnde Person in Erscheinung getreten. Sie selbst wurde zum Sinnbild des Feuers, das sie gelegt hat. Zugleich wurde damit Feuer an die Grundlagen der Kultur gelegt, wieder versinnbildlicht in der Tatsache, daß die Flammen auch das Wiener Grundbuch vernichteten. Jenes Grundbuch, welches das „kultivierte" Feuer des eigenen (individuellen) Herdes garantiert.

Für Sigmund Freud stellte sich nach diesem Tag die Frage, „ob die Welt nach diesen Ereignissen noch fortbestehen könne", da er erkannte, daß hier ein archimedischer Punkt erreicht war, nämlich ein Frontalangriff auf die kultur-schaffende Institution der Justiz, die die Beziehungen zwischen Menschen geordneten Regeln unterwirft. Freud war der Ansicht, daß die „Kultur" Vorrang vor der individuellen Freiheit haben müsse, daß der einzelne sich im Namen der Kultur beschränken und Opfer bringen müsse.

Der Atheist Freud wird hiermit zum theoretischen Verbündeten des damaligen Bundeskanzlers und Prälaten Ignaz Seipel, der die (vollkommene) Demokratie, also die von derMassedes 15. Juli eingeforderte Gleichheit der Menschen (vor dem Gesetz), „in den Himmel lobt", im Diesseits aber den Staat - in Anleh-

nung an die Kirche - lieber hierarchisch geordnet sieht. Was für Seipel die höchste Instanz ist für Freud die kulturelle Ordnung. Im übrigen unterscheiden sich beide hierin nicht von Otto Bauer, dem Führer der Sozialdemokratie und Antipoden Seipels. Der Unterschied ist allein dadurch gegeben, daß Bauer von der Erziehbarkeit der Massen überzeugt war, während Seipel an keinen menschlichen Fortschritt glaubte und seine Rolle als Massendompteur sah. •

Zahlreiche Studien sind seither über den Justizpalastbrand veröffentlicht worden, doch bislang hat es noch niemand unternommen, die literarischen Früchte dieses Feuers auf ihren historischen Gehalt hin zu überprüfen, „zu zeigen, durch welche Mechanismen sich Geschichte in Geschichten verwandelt", wie Stieg seine Absicht formuliert. Drei dieser literarischen Produkte unterzieht er einer eingehenden Analyse: Elias Canettis „Blendung", Heimito von Doderers „Dämonen" und Karl Kraus' „Unüberwindlichen". Doderer, ideologisch nach seinem Ausritt in den Nationalsozialismus (noch vor 1945) in den Schoß der Kirche zurückgekehrt, wird in den „Dämonen" inhaltlich und ästhetisch zum Verteidiger des Individuums vor der Masse. Sein Protagonist Leonhard Kakabsa, aus dem Arbeitermilieu stammend und damit natürlicher Verbündeter der „pyromanischen Masse", verteidigt an diesem Tag

(ähnlich wie der von Doderer ausdrücklich positiv gezeichnete Schutzbund) die bürgerliche Ordnung und kann damit als einzelner, der sich über den „Ruass" (wiees in den „Dämonen" heißt) erhebt, sozial aufsteigen. Doderer bietet also ein grandios inszeniertes, sozialpartnerschaftliches Modell an: Er rechtfertigt die Polizeiaktion (Position Seipel), verteidigt gleichzeitig den Schutzbund (Position Bauer) und glaubt weiterhin an die Erziehbarkeit der Masse.

Konträr dazu Canetti: Bei ihm ist jegliche Erziehung obsolet gewor-

den. Er war als einziger Augenzeuge am Schmerlingplatz und damit selbst Teil der Masse und ist deshalb nicht gewillt, den klaren Trennungsstrich, den Doderer zwischen sich und der Masse gezogen hat, zu akzeptieren. Er entdeckt hier den Massentrieb als ebenso wichtig, wie Freuds Dualismus Eros-Thanatos. Demzufolge gibt es bei Canetti keine eindeutigen Schuldzuweisungen, sein bürgerlicher Held Peter Kien wird, wie Stieg ausführt, „eine Selbstauflösung durchs Feuer vollziehen, durch die alle Distanzen aufgehoben sind".

Eine Zwischenposition findet sich bei Kraus. Er begreift sich als Anwalt der Masse (vor allem vor der schießwütigen Polizei), aber nicht als Teil von ihr. Bei ihm wird die Szene zum Tribunal. Kraus geht es im allgemeinen um die juristische Seite der Angelegenheit und im besonderen um die Unverhält-nismäßigkeit von Strafe und Tat. Daher seine Rücktrittsauf f orderung an den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober.

Am Rande beschäftigt sich Stieg auch noch mit zwei unbedeutenden Früchten dieses Feuers: mit den Romanen „Umsturz im Juli" von Roderich Müller-Guttenbrunn und „Die Gaukler" von Rudolf Henz. Letzterer vertritt die Position des politischen Katholizismus, ersterer eine national-liberale. Dabei sticht die verschiedene Beurteilung der Masse ins Auge: Während Müller-Guttenbrunn der Masse durchaus etwas abgewinnen kann, lehnt Henz sie als rein verbrecherisch ab. Obwohl als Kunstwerke mißraten, sind die beiden Romane als „ Früchte des Feuers" doch beachtenswert.

Gerald Stieg hat also sehr tief in der (Literatur-)Geschichte geschürft und Erstaunliches zu Tage gefördert. Trotz der Wissenschaftlichkeit ist seine Analyse auch eine Hommage an Elias Canetti, der als einziger die Tragweite des 15. Juli politisch und ästhetisch adäquat verarbeitete. Wer ein wenig Sinn für die Geschichte hat, wird in Anbetracht der 1989er Revolutionen nicht an der „brennenden" Aktualität dieser Untersuchung zweifeln.

FRUCHT DES FEUERS. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Von Gerald Stieg. Edition Falter im Österreichischen Bundesverlag, Wien 1990. 238 Seiten, illustriert, öS 248,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung