6797784-1971_18_17.jpg
Digital In Arbeit

Von der Mechanik des Geistes

Werbung
Werbung
Werbung

Heimito von Doderer pflegte zu sagen, daß der Schriftsteller den anderen Künstlern eines voraus habe, nämlich: in seinem Material nicht nur gestaltweise, sondern auch zerlegungsweise arbeiten zu können. Und er selber hat denn auch nicht nur erzählende, sondern auch essayistische Prosa verfaßt.

Theorie (oder was man, schlampig, so nennt) hat Doderer freilich niemals geboten; sondern so etwas wie eine Entwicklungsgeschichte seiner Technik. Und da, wie er mehrmals konstatiert, des Künstlers Schicksal in seiner Technik enthalten ist, lesen wir also eine Art Autobiographie: chronologisch in den „Tangenten“ von 1964, alphabetisch im „Repertorium“ von 1969, und nun auch thematisch gegliedert in der Sammlung von Aufsätzen, Traktaten und Reden, die 1970 unter dem Titel „Die Wieder kehr der Drachen“ publiziert worden ist.

Anekdotisches freilich darf hier noch weniger erwartet werden als allenfalls noch in den Tagebüchern, denn: „Alle Anekdoten sind Lügen. Entweichendes Leben, dem man plötzlich das letzte Schwänzchen angenagelt hat: wie im Schreck erstarrte das Ganze.“ (So im „Repertorium“.) Es galt ja, das Leben in Fluß zu halten, und zwar als Mäander, nicht kanalisiert — womit wir, fast nolens volėms, im Kern der von Doderer stets in Rede gestellten Sache stek- ken. Aber wir brauchen auch hier den (von Doderer vielfach beschriebenen) Umweg:

Den Freund und Meister Gütersloh meinend, doch zutiefst von sich selber sprechend, sagt Doderer: „Sich selbst heilend, entdeckte er das Mittel gegen die Zeitkrankheit.“ Die

Krankheit ist der Auseinanderbruch von Sprache und Sache und damit das Entstehen einer Pseudologie, und dies nicht bloß im psychiatrischen Sinn, sondern mehr noch verstanden als „zweite Wirklichkeit“ als „Unter- tatsächlichkeit“. Heilung finden wir in der „Wörtlichkeit als (der) Kernfestung der Wirklichkeit“, wo nichts mehr mitgeteilt, aber alles gesagt wird: im eigentlich Grammatischen, was aber nichts zu tim hat mit der so genannten Beherrschung der Grammatik. Auch die Sprache darf direkt — im lateinischen Sinn des ganzen Wortstammes — nichts mehr wollen, wenn sie das eigentlich (mehr von ihr als von uns) Gemeinte treffen soll: insofern also die Technik als Schicksal des Künstlers. Ein paradigmatisches Schicksal, versteht sich, und eine paradigmatische Technik, wenn es im Hinblick auf Gütersloh und in Erahnung des eigenen Spätwerkes heißt: „Der totale Roman sollte die Welt sehen mit einm fast schon verglasten Auge, welches alsbald nach oben brechen und in das sich dann nur noch der leere Himmel schlagen wird. Jedoch dieser Augenblick des Abschieds, wo man noch ganz da ist, aber durchaus nicht mehr will, müßte wohl auch einzigartig sehend machen.“

Aber vor lauter Wünschbarkeiten, ja eigentlich Velleitäten sind wir aus der Anschaulichkeit gefallen, wir praktizieren „das Unanschauliche als Motiv und Gesinnung, ja geradezu als Stil des Denkens“, wir üben Apperceptionsverweigerung nicht mehr nur gegenüber Argumenten, sondern sogar auch schon gegenüber Fakten. „Die moderne Form der Dummheit, auf welche wir hier stoßen (ist) längst keine Eigenschaft mehr, sondern eine Gesinnung und Haltung… ja eigentlich eine Intelligenz mit umgekehrtem Vorzeichen.“ Sie postuliert, denkensgemäß zu leben (anstatt lebensgemäß zu denken): Es wird „eben dasjenige, was nur vollkonkret hinzugegeben werden kann, unanschaulich und vorwegnehmend ins Auge gefaßt und dem Leben entwendet“; bis zu der gar nicht mehr seltenen Fähigkeit, .įėinę. Situdtion tįnd Konkretion nicht für das Ergebnis inappellabler Mechanik äußeren Lebens zu halten, sondern für ein Produkt, das man erzielen könne … Die Geschichte des Materialismus, mit jener seit jeher vorhandenen Materie, zu welcher die Form nur ein Accidens bilden soll, kanm hierfür als bekanntes Beispiel gehen.“ So etwa zieht in dem da erstmals publizierter Essay „Sexualität und totaler Staat“, Heimito von Doderer die Summe: und zwar nicht eben bloß des eigenen Denkens oder auch Lebens, sondern wahrhaftig der Zeit, in dem oben zitierten Satz von Krankheit und Heilung.

Heilung, natürlich, nicht als Rezept, sondern als paradigmatischer Prozeß: als Frage nach der Mechanik des Geistes, „gegen welche wir bis zum Auseinanderbrechen verstießen; aber der klaffende Spalt gewährt jetzt die Einsicht“ in „die Art des Zustandekommens schwerer Häresien“. hinab’ bis In deren ,(psycho r- -J5 Ä-rv,er .V« r logische Wiege“ zu dem „Wechselbalg aus Nichts und Etwas“. So erscheint der Verlust der Analogie (und deren Ersatz durch Pseudologie) nicht als ein undurchsichtiges Verhängnis —so wenig wie, im besonderen dann, der totale Staat, den „der Europäer durch lange Zeit in sexueller Praxis vorgeübt“ hat: mit der Konstituierung von „zweiten Wirklichkeiten“ schon dort, wo man nun wirklich nichts „nehmen“ — insbesondere auch: vorwegnehmen — darf, sondern „appercipieren“ — aperte percipere, offen aufnehmen — können muß, „was durchaus nur hinzugegeben werden kann“.

DIE WIEDERKEHR DES DRACHEN Von Heimito von Doderer. Aufsätze, Traktate, Reden. 352 Seiten. Bieder stein-Verlag, München 1970.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung