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MIT DER SPRACHE LEBEN

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Die Sprache kann nur immerwährend gesunden — und das muß sie, denn sie erkrankt ebenso immerwährend — aus ihrer Matrix, die noch wortlos ist: aus unserer Zugänglichkeit und Empfangsamkeit, aus der Apperceptivität. Der Grundsumpf unserer Eindrucksfähigkeit, freigelegt durch das Zerschlagen der ihn überwachsenden Decke von sprachlichen Erstarrungsformen — die sich als bequeme Särge stets ange- boten haben, in denen wir ein gut Teil unserer ungeborenen SprachlichĮceit bestatteten —, dieser Grundsumpf aus noch nie berührten Erlebnissen und Zuständen unserer Vergangenheit: er ist es, der zäh und langsam bei jedem von uns seine eigene Sprache hervorbringen würde (wollten wir’s nur geduldig erwarten), die zu nichts nütze, die vielleicht zunächst ganz unverständlich wäre: aber, welchen hohen Grad von Ansprech- barkeit würde ein solcher, nur begonnener, Prozeß bei seinen Trägern schaffen für den seltenen Fall eines ganz durchgeführten Vorganges dieser Art: würde ein solcher sie berühren, sie erlernten überraschend weiter ihre eigene Sprache, sie entdeckten nichts geringeres als ihr eigenes Leben, wie es wirklich war und ist.

Nun, man sieht schon, daß eine solche Sprachpflege einen sehr individuellen Weg ginge; dennoch den einzig möglichen, wie wir glauben. Denn alles auf die erstarrte Oberfläche der Sprache gerichtete Bessern wird unvermeidlich auf normative Grammatik hinauslaufen, und zuletzt auf den Aberglauben der Orthographie, die es ja gar nicht gibt, weil notwendig eine jede falsch sein muß.

Was aber trennt uns von unserer eigenen Sprache, lastet auf ihr wie eine Asphalt- oder Betondecke? Etwa, daß wir nicht geschickt genug im Schreiben sind, oder daß wir die Grammatik nicht beherrschen, weil das Fundament unserer Kenntnis der antiken Sprachen nicht solide gelegt wurde? Oh, nichts von alledem. Sondern das genaue Gegenteil dessen, was ich früher Empfangsamkeit genannt habe. Also die — Apperceptionsverweigerung. Und damit hätten wir die Vokabel gefunden für die unserem Zeitalter eigene — jedes hat seine besondere — Form der Dummheit.

Sie ist nicht, wie früher einmal, ein Fehlen der Intelligenz; nicht etwas rein Negatives, bei einer Subtraktion übrig bleibendes, eine bloße Privatio — wie die Scholastiker es nannten — eine Beraubung, ein Beraubtsein. Die Dummheit oder Apperceptionsverweigerung ist heute keine Eigenschaft, sondern eine Haltung, die früh eingenommen wurde, und auf einen nicht mehr auffindbaren bösen Entschluß des Einzelindividuums zurückgeht. Dumm ist, wer dumm sein wiill.

Die Dummheit ist heute wach, stets im Anschlag, scharfsinnig und feindspürig. Sie wittert sofort die Anwesenheit von Intelligenz, in den feinsten Spuren sogar, und nimmt eine feindselige Haltung gegen sie ein — was aus einer reinen Privatio, aus einer Beziehungslosigkeit zur Intelligenz nie erklärbar wäre. Vielmehr befindet sie sich in stets angespanntestem Bezüge zu jener. Sie ist eine umgeklappte Intelligenz mit negativem Vorzeichen. Und sie ist der Intelligenz taktisch insofern überlegen, als sie selbst sich nie beim Namen nennt. Nie wird ein von der Dummheit Besessener sagen, daß er für die Dummheit eintrete. Vielmehr wird diese, um ihre Erzfeindin, die Intelligenz, zu umgehen, viele mögliche Formen annehmen, von allen erdenklichen respektablen Überzeugungen angefangen bis zu ihrem letzten taktischen Auskunftsmittel, der Vernebelung durch Feierlichkeit. Hier gedeihen die ansehnlichen und ehrbaren Irrtümer, die errores specta- biles, die so unendlich gefährlicher sind als jene weithin durch die Warnungstafeln offensichtlichen Verfalles gekennzeichneten errores immundi, die schmutzigen Irrtümer, Trunksucht, Ausschweifung, Gewalttat, Lüge und Betrug. Denn diese geraten nur neben die Zehn Gebote. Jene aber wissen es stets anders und besser als der Prophet, der die Tafeln herabtrug.

Daß auf solche Weise es zur Entstehung eines neuen Koordinatensystems kommen muß, in welches auch Tatsachen nicht mehr als überzeugende Beweise einzudringen vermögen, ist ohne weiteres klar. Hier handelt es sich um Errichtung einer zweiten Wirklichkeit. Wir erkennen sie, objektiv projiziert, das heißt nach außen geschlagen, im ideologischen Totalstaat.

Hier hört der Prozeß auf, den Denker zu faszinieren. Das Ringen von Apperceptivität und Deperception im Einzelindividuum aber bleibt seiner höchsten Aufmerksamkeit wert, weil es in jedem Augenblicke nichts Geringeres ist, als ein aus nächster Nähe gesehenes Detail weltgeschichtlicher Entscheidung.

Bei solchen Kämpfen der noch lange nicht so sich benennenden Weltmächte im einzelnen Individuum stehen wir an der Grenze der empirischen Psychologie. Denn da alle Inhalte, seelischen Mechanismen und Qualitäten sowohl in der ersten wie in der zweiten Wirklichkeit Vorkommen, ist die Distinktion beider mit psychologischen Mitteln nicht mehr vollziehbar. Von diesem Punkte an muß uns ein zu höchster Intelligenz gebrachtes Gewissen leiten, um die Kräfte zu distm- guieren, die da jeweils ziehen oder schieben; also eine Art dialektischer Psychologie, die man auch Mechanik des Geistes nennen könnte. Sie ist — man sollte es eigentlich kaum glauben — noch wenig erforscht, und wenige nur wußten von ihr, unter ihnen Charles Baudelaire, der uns dies in folgendem Satze verrät: „II y a Sans doute dans l,ėsprit une espėce de mecanique cėleste, dont ii ne faut pas ėtre honteux, mais tirer le parti le plus glorieux, comme les mėdecins de la mecanique du corps“ (Oonseils aux jeunes littėrarteurs VI.).

Was wir heute Einfalt oder einfältig nennen, und sehr mit unrecht in die Nähe der Dummheit bringen — obwohl es doch eine reine Privatio ist, ein Fehlen der Intelligenz, aber nicht ein Dummseinwollen, also keine Entscheidung für die Apperceptionsverweigerung —, was wir heute Einfalt nennen, das nannte man einst Schwachsinnigkeit und Unfähigkeit, ja, es benannte sich selbst so. Heute gehört die Einfalt — die in jedem Augenblicke durch den Ein-Fall einer gewaltigen Apperception ins Genie umzuschlagen vermag — zu den seltensten und kaum mehr gesehenen Gnadenständen des Men schen. Ja, man könnte unser Zeitalter geradezu das „aevum simplicitatis perditae“ nennen.

Wir möchten hier ein Beispiel haben für solch eine reine Privatio.

Bekanntlich hat der Bischof Gregor von Tours eine Geschichte der frühen fränkischen Könige verfaßt, die mehrere Fortsetzer gefunden hat. Einen von diesen nennt man den „Fredegar“, ein Mann, über den wir nichts wissen, als was seine Chronik sagt, nämlich daß er ein sehr mäßiger Schriftsteller war. Wir fassen heute unter dem Namen „Fredegar“ eigentlich nur eine Quellengruppe zusammen. Er schreibt:

„Wir leben jetzt im Greisenalter der Welt. Darum hat die Schärfe des Geistes nachgelassen, und niemand vermag es den früheren Schriftstellern gleichzutun.“ Mit den „früheren“ meint er natürlich die Autoren des Altertums.

Ein ungefährer Zeitgenosse von ihnen ist ein gewisser Mar- culf, Verfasser einer „Formelsammlung“, also eines Schimmels für Urkunden. Dieser sagt, er habe es so gut gemacht als er konnte, für Zwecke des Unterrichts, und fügt hinzu: „quiia eleganter non scribere potui“ — „weil ich mit literarischer Brillanz zu schreiben nicht vermochte“.

Autoren vom Niveau des Fredegar oder des Marculf würden sich heute wesentlich anders verhalten. Sie hielten, wenn sie die wirklichen Schriftsteller überhaupt zur Kenntnis nähmen, diese für die Dummen oder mindestens für unverständlich, sich selbst aber für die rechten und eigentlichen.

Anders Fredegar und Marculf. Sie befinden sich noch auf der gleichen Skala der Werte mit einem Tracitus oder Sueton, nur auf einer weit tieferen Stufe. Und sie wissen es. Sie verweigern nicht die Apperception. Sie errichten nicht ein neues Koordinatensystem. Sie leben im selben Kosmos wie die großen Autoren. Und nicht als deren Feinde...

Zurück zürn Grundsumpf der Sprache. Wer eine Wortwendung aus ihm nur einmal erlebt hat, der weiß, was Wirklichkeit heißt und daß die littera non semper occidit, daß der Buchstabe nicht immer tötet, warm von unserem Leben wie er ist, und rieselnd blank von der Genauigkeit, die für ihn nötig war, um sich dem Grundsumpfe zu entringen.

Hier ist der zweiten Wirklichkeit die Grenze gesetzt. Nichts fürchtet die Apperceptionsverweigerung so sehr wie Wörtlichkeit, welche sogar die Nebel ihres letzten Refugiums, der Feierlichkeit, zerreißt und gerade die honetten Irrtümer am meisten zuschanden macht. Die Dummheit wird nicht müde, mit ehrbaren Donnerworten gegen die so gefährliche Wörtlichkeit zu kämpfen: von „Part pour l’art“ und „Wortspielerei“ bis „Klauberei“ und „Tüftelei“. Ja, hier fühlt sie sich wirklich auf den höllischen Schwanz getreten; hier werden ihre Heimlichkeiten aufgedeckt. Hier wird sie von der ersten Wirklichkeit umfaßt, zum Objekt gemacht, zur „empirischen Pathologie“, um mit Goethe zu reden: und dann kann es ihr auch nicht mehr gelingen einen so ungeheuren Koprolithen zu bilden, daß niemand ihn mehr umfassen könnte: nun, wir haben das erlebt. Und anderwärts erleben es die Menschen noch an diesem heutigen Tag.

Wörtlichkeit ist die Kernfestung der Wirklichkeit. Schau unter deine Sohlen in den Grundsumpf deiner Sprache! Lasse ihre Metaphern genau senkrecht über den Grundbedeutungen stehen. Wahrhaftig, man kann hier loten wie ein Maurer.

Diese Ausführungen sind einer Abhandlung Doderer mit dem Titel „Wörtlichkeit als Kernfestung der Wirklichkeit“ entnommen. Sie wurde vom Glock-&-Lutz-Verlag, Nürnberg, zusammen mit anderen Vortragstexten, die bei einem Convivium des Willibald-Pikheimer-Kuratoriums auf dem Gelben Schloß in Heroldsberg verlesen wurden, unter dem Titel „Mit der Sprache leben“ herausgegeben.

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