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Digital In Arbeit

Vollendung im Fragment

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DER GRENZWALD. Roman No. 7. Zweiter Teil Von Heimito von Dtdertr. Biedersteln-Verlag, München. 272 Seiten. DM 16.80.

Als Heimito von Doderer vor genau einem Jahr — zwei Tage vor Weihnachten — in Wien starb, wurde er mitten aus der Arbeit an einem großen, als Tetralogie angelegten Romanwerk herausgerissen. Er nannte es den „totalen Roman No. 7“, von dem 1963 der 1. Teil „Die Wasserfälle von Slunj“, erschienen war und auch an dieser Stelle ausführlich besprochen wurde (1963, Nr. 43). — Das vorliegende Buch enthält bis Seite 202 den ausgeführten Teil, hierauf folgen etwa 30 Seiten „Probetexte“, darnach Aufzeichnungen in Tagebuchform über die geplante Fortführung des Romans und Anmerkungen des Herausgebers Dietrich Weber, dem Doderer seinen Nachlaß anvertraut hat.

Liest man in diesen Aufzeichnungen und Anmerkungen, so ist man lebhaft ergriffen, ja zutiefst bewegt von der akribischen Gewissenhaftigkeit eines Autors, den wir im Vollbesitz der Meisterschaft wähnten und der noch so viele Pläne hatte, der noch so viele Forderungen an sich selbst stellen zu müssen glaubte. So war er in den letzten Tagen, schon im Krankenhaus, mit der „Purifikation des Textes von Sen-tenziösem“ beschäftigt, eines Textes, in dem ein solcher Grad von Objektivität erreicht ist wie in kaum einem anderen Werk des Dichters und in nur sehr wenigen deutschsprachigen Romanen mit vergleichbarer Thematik.

Die Handlung des Romans „Der Grenzwald“ knüpft an die der „Wasserfälle von Slunj“ an, welche, in der Gründerzeit spielend, nun auch zeitlich weitergeführt wird, bis in die zwanziger Jahre. Im Mittelpunkt steht der in Groß-Schweynz-kreuth gebürtige und aufgewachsene Heinrich Zienhammer, eine Nebenfigur im I, Teil des „Romans No. 7“. Dieser Oberleutnant Zienhammer wird in den Notizen charakterisiert als der für alles anfällige Uri-dezidierte. („So kann aus der Mittelmäßigkeit das Finsterste kommen und zur Tathandlung werden.“) Aus dem Nichts kommt das Schwerverbrechen: hier der Verrat seiner Kameraden, einer Gruppe von ungarischen Offizieren, die in Sibirien erschossen werden.

Hier nämlich, in Sibirien, weit hinter dem Ural, spielt die Handlung des Fragments. Es ist eine Welt mit ihren eigenen Gesetzen und Lebensbedingungen. Doderer hat sie selbst als Kriegsgefangener im ersten Weltkrieg kennengelernt und schildert sie nicht ohne Sympathie. Die Beziehungen zu den Eingeborenen sind die besten, die zu den russischen Offizieren von einer Art, wie man sie sich nach den Gefangenengreueln des zweiten Weltkriegs überhaupt nicht vorstellen kann. (Die Erschießung der Ungarn erfolgt durch tschechische Legionäre und wirkt wie ein Donnerschlag an einem Frühlingsmorgen.) Ansonsten herrschen hier Ruhe und Ordnung, wenn auch von besonderer Art. Die beiden Revolutionen, die vom Februar und die vom Oktober 1917, hört man nur von fernher grollen, sie hinterlassen keine tieferen Spuren und Eindrücke, und bald darnach kann man sich für die Heimreise rüsten... Was der Dichter sich vorgenommen, ist hier weitgehend verwirklicht. Dieser Roman, so wünschte es sich Doderer, müsse von der überall, durch alle Spalten sickernden Ruhe beherrscht und getragen werden. „Sie liegt wie Sonne auf dem Dache des Lebens. Sie, nicht die heftigste Lebensbewegung, ist das eigentliche Gegenteil des Todes.“

Bereits in den „Dämonen“, die soeben als Doppelband in einer Sonderausgabe als Folge 156 der Reihe „Bücher der Neunzehn“ erschienen sind, wird die Forderung erhoben, der gestaltende Künstler soll nicht „denkensgemäß leben“, sondern „lebensgemäß denken“. Er dürfe kein philosophisches, politisches oder moralisches Klischee benützen, denn „Sinngebung erfolgt vielfach, weil man zu wehleidig ist, das Sinnlose bei seinem Begriff zu belassen.“ Hier wie im 1. Teil des Romans No. 7 mischt sich Doderer

unauffällig unter seine Gestalten und identifiziert so den Leser mit dem Blickpunkt des Autors. Das geschieht auch im „Grenzwald“, und zwar mit der gleichen Absicht. Sein Ziel ist, kein Ziel zu haben. Dies erscheint als die kürzeslmögliche Definition des „totalen Romans“. „Das muß mein letzter Eros sein: der zum Objektiven. Sein Freiwerden allein rechtfertigt die Entstehung des neuen Werks“, lautet eine der Notizen zum 2. Teil des „Romans No. 7“. Und mit Trauer, in die sich jenes Hochgefühl mischt, das die Wahrnehmung der Voll-

kommenheit auslöst, lesen wir zwei andere Notizen von Doderers Hand zu seinem letzten Buch: „Als ob ich nie einen Roman geschrieben hätte: so stehe ich vor dieser Arbeit. Eine grenzenlose Apperzeptivität läßt dabei mein Alter als nebensächlich erscheinen ... Der Grenzwald greift ein Neues. Nun weiß ich's. Er wächst aus einem neuen Leben, das ich bisher nicht führte. Es ist mein eigenes. Wir wollen keine Sekunde zögern, es an uns zu nehmen, ein bisher beiseite gelassenes, ja nicht entdecktes Eigentum.“ Es mag sich ergeben, daß auch der eine oder andere Leser auf sein „Eigenes“ hingewiesen wird. Hofmannsthal nannte es „das Höhere“ und meinte damit dasselbe...

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