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HEIMITO VON DODERER

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Seit die beiden grofjen Wiener Romane „Die Strudlhofstiege“ und „Die Dämonen“ erschienen sind, ist die Literaturkritik auf „Ahnensuch“. Man hat Kafka und Musil, Broch und Proust genannt. Aber Doderer ist, so scheint uns, „selber einer“: ein Originaltalent, das sich bereits in den frühesten, kaum mehr zugänglichen Arbeiten manifestiert und das sich in den genannten, vorläufig letzten Werken, deutlich ausgeprägt hat. Freilich, wie Marcel Proust könnte man auch Doderer als „Gesellschaftsbotaniker“ bezeichnen. Aber sein Herbarium ist reicher, umfassender als das des Franzosen. Von der Hochfinanz über das Bürgertum, den Journalismus und die Arbeiferschaft bis zur Kaffeehausbelegschaff und Unterwelt sind bei ihm alle sozialen Typen verfreien. Doderer braucht dieses dichte soziale Gewebe, weil er alle aufgeworfenen Fragen „gestaltweise darstellen, nicht zerlegungsweise in der Form von Abhandlungen traktieren will“. Aus der Fülle der Motive und Gestalten webt er seinen Teppich des Lebens. Und wie ein Weber legt er vor Beginn der Arbeit die Muster genau fest.

Doderers Kolossalromane — die „Strudlhofstiege“ zählt 909, „Die Dämonen“ 1347 Seifen — haben in unserer wenig lesefreudigen Zeit einen ungewöhnlichen Erfolg. Wie isf er zu erklären? Doderer versteht zu erzählen. Die Kunst des Fabulierens, der originären Erfindung von Gestalten und Schicksalen, isf in seinem Werk zu neuen Ehren gelangt. Als Romancier verfährt er keineswegs experimentell, wie etwa Joyce oder Döblin. Und in Doderers Romanen wird weder gepredigt, noch gewettert, noch geworben. Er sieht die gröfjte Gefahr unserer Zeit in den fertig gelieferten Ideen und genormten Begriffen. „Der Dämonie verfällt alles, was im Kurzschlufj direkter Weltverbesserung in eine postulierte Wirklichkeit absinkt.“ Davon wissen unsere Zeitgenossen ein Lied zu singen, und deshalb erholt man sich gern an „degagierter“ Literatur.

Aber Doderers Werk ist deshalb nicht halt- und richtungslos. „Das Bündnis zwischen Erinnerung u nd Gewissen“, so urteilt der Literaturkritiker der Zeitschrift „Hochland“, „das den wahren Konservativen kennzeichnet, hat hier etwas geschaffen, was Kontinuität im besten Sinne stiftet, indem es im Guten und Bösen Vergangenheit einsichtig macht und anerkennt.“ Für Doderer, als Oesterreicher und Zeitgenossen, erfolgte der Einbruch der Dämonen, des Totalitären, beim Brand des Justizpalastes im Juli 1927, er sieht darin einen „ersfen symptomatischen Akt für den später so augenfälligen Aufstand des .gesunden Volksempfindens' gegen das römische Rechtsdenken, auf dem die Freiheit des Europäers beruht.“ Trotz dieses aktuellen Bezuges gehören Doderers Büdier nicht zu den Zeitromanen, sondern vielmehr in die Reihe der grofjen europäischen Bildungs-, Erziehungsund Entwicklungsromane, besonders zu den letzteren. Die Einsichten des Hauptmanns Melzer, der Weg des Rene Stangeier, die Menschwerdung des Amtsrates Zihal (hier wird das Thema parodisfisch abgewandelt), zuletzt der mit unverhohlener Sympathie geschilderte Aufstieg des Wiener Arbeiters Kakabsa, aber auch vorher schon die Selbstenfdeckung des Lorenz Kasfiletz in „Ein Mord, den jeder begeht“ — 'das weist in der Technik eher auf Balzac, Fontane oder Dostojewskij als auf die vorhin genannten neueren Romanciers und Schriftsteller. Und es weist zurück auf „Wilhelm Meister“. Auf dieser Ebene erreicht Doderer das Beste und Schönste: Weisheit. — Als Beispiel eine kurze Stelle aus „Ein Mord, den jeder begeht“, eine Zwischenbemerkung des Autors anläßlich eines Gespräches zwischen dem jungen Kasfiletz und seinem Schwiegervater:

„Mit jenem Mangel an Eitelkeif des Worts, der seinem reifen, männlichen Alfer geziemte, unterbrach Robert Veik die Rede, er vergafj durch ein Weilchen weiterzusprechen und lieh gleichsam den Faden sinken, welchen er spann. Sein wohlwollendes schweres und starkes Gesicht, dessen Züge zumindest einmal dieses Eine aussagten, dafj er nicht unrühmlich nach einer ausgeglichenen Weise, dieses unser Leben zu sehen, gerungen hatte (und welchen besseren Ruhm, frage ich, kann ein erwachsener Mann gewinnen?), sein Gesicht überzog sich mit jenem Gewölk der Nachdenklichkeit, das die Götter jedem um die Stirn gießen, dem plötzlich ein längst Bekanntes ganz neu erscheint und dessen Antlitz sich nach innen zurückwendet, zur Einsicht.“

So umfangreiche Gerichte, wie sie Heimifo von Doderer serviert, werden mit den verschiedensten Ingredienzien bereifet. Da gibt es, zur Würze, auch Kolportagehaftes und Manieriertes, und in einer bestimmten Sphäre wird gelegentlich auch über den Strang geschlagen. Aber was bedeutet das bei einem Werk, von dem ein deutscher Kritiker schrieb, daf) in ihm Oesterreich einen Schatz besitze, um den es zu beneiden sei.

Als im August 1951 Hans von Winter in der „Furche“ — und damif erstmalig in Oesterreich — nachdrücklich auf Doderer hinwies, mufjfe er seine Einführung mit der Feststellung beginnen, dah, wer damals einen Kulturredakteur oder Verlagslektor nach Doderer fragte, in vielen Fällen in völlig unwissende Gesichter blickte. — Heute trifft eher jenen ein erstaunter Blick, der die beiden Wälzer — zumindest — noch nicht gelesen hat. In Ilse Luckmann, die die Lizenz für Oesterreich besitzt, und im Biederstein-Verlag, München, wo die letzten Bücher erschienen sind, hat Doderer Verleger gefunden, die sein Werk in mustergültigen Ausgaben betreuen. Die Aufnahme des Romans „Ein Mord, den jeder begeht“ in die Reihe „Bücher der Neunzehn“ bedeutet eine weitere literarische Anerkennung. In der vergangenen Woche wurde Doderer der Oesferreichische Staafspreis für Literatur überreicht. Er verdient aber auch die höchste Auszeichnung durch Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Der durch Hans von Winter eingebrachte Vorschlag wurde vom Oesferreichischen PEN-Zentrum einstimmig gebilligt. Hierbei isf daran zu erinnern, dafj bisher noch kein einziger österreichischer Schriftsteller — weder Rilke noch Hofmannsthal, weder Werfel noch Kafka, weder Musil, Broch und Kassner — mit diesem Preis ausgezeichnet worden ist. — Nun ist der Vorschlag gemachf worden, und die Schwedische Akademie wird darüber zu entscheiden haben, ob sie in Doderer endlich auch jenes Land anzuerkennen gedenkt, das neben Frankreich auf dem Gebiet der Literatur in der ersfen Hälfte des 20. Jahrhunderts die glänzendsten und gewichtigsten Leistungen aufzuweisen hat.

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