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Unerreichbares Glück

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Mein Talent, mein traumähnliches Innenleben zu porträtieren, hat alle anderen Themen in den Hintergrund gedrängt." Dieses Bekenntnis Franz Kafkas kann als Schlüssel zur Erklärung vieler seiner Erzählungen angesehen werden. In seinem Boman „Der Prozeß" läßt er den Bankangestellten Josef K. bekanntlich in der Hoffnung leben, seinen „Fall" geregelt zu bekommen. Die Gedankenwelt, um die der Boman kreist, ist zum Teil schon in früheren Erzählungen vorweggenommen oder anvisiert. Die in ihnen erkennbare „moralische Vision unerreichbaren Glücks" ist ein Thema, das sich auch auf Kafkas Lebensweg bezieht: keine Heirat, keine Familie (wohl aber ein zeitweise gefürchteter Vater), statt dem erhofften beruflichen Aufstieg die Tuberkulose und der Tod mit 41 Jahren.

Sein Freund Max Brod hat bekanntlich die vorhandenen Manuskripte, entgegen Kafkas letztem Willen, nicht vernichtet, sondern Mitte der zwanziger Jahre herausgebracht. Er hat jedoch schon früher Kafka zur Veröffentlichung von Erzählungen ermuntert. Diese frühen Kurzgeschichten, oft nur Skizzen oder „Seifenblasen" (wie Bobert Musil sie nannte), sowie Prosa aus dem Nachlaß, sind mit ausführlichen Erläuterungen neu herausgekommen.

Kafka gehörte nicht zu den Expressionisten, obgleich er wohl ohne deren Impulse nicht denkbar ist. Seinem Stil nach wäre er fast den Impressionisten zuzurechnen, in der Ausführlichkeit und Sorgsamkeit, mit der er Szenen und Personen, Abläufe und vor allem Gedankengänge beschreibt. Da spielt viel Psychologie hinein, neurologische Phantasie, die Aufhebung der Grenzen zwischen Scheinwelt und Realität, in grotesker Weise auch zwischen Mensch und Tier. Daß in einer Erzählung kriegerische Nomaden nicht wie Menschen sprechen, sondern sich wie Dohlen pfeifend verständigen, hat seinen Sinn, denn Dohle heißt auf tschechisch kavka. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird häufig gestellt, etwa in der Skizze „Der Fahrgast", noch stärker in der Novelle vom Trapezkünstler oder in der vom Hungerkünstler. Zwei kurze Texte befassen sich mit der Stellung des einzelnen vor dem Gesetz, die als roter Faden den „Prozeß" durchzieht. Noch dramatischer die Stücke „In der Strafkolonie" und „Das Urteil", das Kafka 1912 in einer Nacht schrieb und für eine seiner besten Arbeiten hielt.

Im Hintergrund der Erzählungen stehen meist Angst, Melancholie, Tod, was zweifellos mit der Unsicherheit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zusammenhängt - eine Parallele zum Expressionismus. Kafka behandelte nicht den gesellschaftlichen Wandel, wohl aber den Kampf des Individuums gegen verborgene, allgegenwärtige anonyme Mächte. Er selbst hatte diesen Kampf auszutragen. Die Erkenntnis, zu der er sich durchgerungen hat, drückt er in einem Aphorismus aus dem Nachlaß aus: „Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: an das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben."

ERZÄHLUNGEN

Van Franz Kafka.

Philipp Reclam jun., Stuttgart 1995. Ln., 366 Seiten, öS 194-

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