6940739-1983_26_11.jpg
Digital In Arbeit

In Kafkas Schatten

Werbung
Werbung
Werbung

Sie kommentieren, symposio- nieren, diskutieren, biogra- phieren, psychologisieren, philo- logisieren, theologisieren über Franz Kafka von Süditalien bis Klosterneuburg; nur Goethe wurde in ähnlicher Intensität und Extensität zerredet, zerschrieben, zergermanistisiert.

Und da kam neulich eine Nicht- Germanistin, weil eine niederösterreichische Zeitschrift zu Kafkas Hundertstem sich und sie fragte, wie es denn um Kafka und

Niederösterreich stehe (denn er war in seiner letzten Lebenszeit als Patient in Kierling), und begann Recherchen und kam auf vieles, vor allem aber darauf, daß vor lauter Kommentar und Auslegung bisher kein Mensch nach Franz Kafkas letzten Lebens- und Leidenszeiten in Kierling gefragt hatte.

Die Kafka-Renaissance ist schier dreißig Jahre alt. Aber nach den Zeugen seiner Agonie hatte niemand gefragt. Jetzt sind natürlich nur noch wenige da, aber immerhin war eine Arbeit entstanden und im Frühjahr 1983 erschienen und erregte großes Aufsehen unter den Kafkanen und Kafkisten, die dreißig Jahre lang das Naheliegende unterlassen hattėn. Als am 3. Mai 1983 in der Albertina eine Ausstellung der lebenslangen Bemühung des Graphikers Hans Fronius um das Werk Kafkas eröffnet wurde, appellierte ich an die damalige Frau Bundesminister Hertha Firnberg, sie möge der Nichtgermanistin die Fortsetzung ihrer Arbeit ermöglichen. Und sie sicherte es in ihrer Eröffnungsansprache dankenswerterweise zu.

Aber ich kann es ja verstehen, wenn auch nicht verzeihen, daß die Kafka-Lobby sich mehr an die Texte als an den Menschen Kafka hält. Es ergeht ihnen wohl — unbewußt — so, wie es mir mit ihm geht und wie es dem französischen Pianisten Alfred Cortot mit Mozart ging:

Cortot sagte zu seinen Schülern: Wenn jetzt die Türe aufginge und Beethoven käme zu uns, wäre ich erschrocken und müßte mich sammeln, aber dann würde ich ihm sagen, wie sehr wir ihn bewundern und wie sehr wir uns be mühen, sein Werk getreulich und gewissenhaft zu interpretieren. Wenn aber die Türe aufginge und Mozart käme zu uns: ich würde tot Umfallen.

Wenn die Türe aufginge und welcher Autor immer hereinkäme, ich würde erschrecken, verle- > gen werden und müßte mich sammeln, von Claudius und Lessing bis Nestroy und Schnitzler. Wenn aber Dostojewskij oder Kafka kämen, würde ich tot umfallen.

Dabei hätte ich ihm soviel zu sagen, über die Germanisten und die Dramatisierer und Verfilmer und Veropernlibrettiseure. Ich würde ihn so gern fragen, ob er nicht den Satz: Kafka sei ein religiöser Humorist, als den dümmsten Satz empfinde, den je ein gescheiter Mann über ihn gesagt habe (Thomas Mann).

Das alles weiß er aber sowieso, dort, wo er jetzt ist, mit seinen von den Nationalsozialisten ermordeten Schwestern und seinen unglückseligen Bräuten, in seinem ewigen Leben, das nicht auf die

Editoren und Kommentatoren warten mußte, um ihm sicher zu sein.

Ich weiß nicht, ob man die FURCHE dort liest, wo er jetzt ist, aber ich hoffe es um einer Anekdote und eines Aphorismus willen, die er vielleicht noch nicht kennt.

Der marxistische Literaturwissenschaftler Georg Lukäcs war im Streit mit seinen -Kollegen, die Kafka als Realisten bezeichneten; Lukäcs meinte, Kafka sei ein artistisch interessanter Dekadenter. Dann kam die ungarische Revolution 1956. Lukäcs wurde, wie schon während der Räterepublik 1919, ein führender Mann. Und dann kamen die Sowjet-Truppen und liquidierten die Revolution und Lukäcs wurde verhaftet und in einen Eisenbahnzug verfrachtet. Und dieser Zug fuhr lange, lange Zeit ostwärts, Ziel unbekannt. Und als der Zug einmal, nach Tagen, zu nächtlicher Stunde stehenblieb, an einem einsamen kleinen Bahnhof, vielleicht in Rumänien, vielleicht in Bulgarien, viel leicht in der Ukraine, da sah Lukäcs hinaus in die Finsternis und sagte: „Kafka ist doch ein Realist.“

Dies muß man jetzt über Franz --Kafka sagen und anschließend den Aphorismus von Zarko Petan zitieren: „Immer wenn ich Kafka lese, wundere ich mich, wie idyllisch das Leben zu seiner Zeit war.“

Ja, „er notiert bloß die Verunstaltungen, die noch nicht in unser Bewußtsein eingedrungen sind. Kunst ist ein Spiegel, der vorgeht wie eine Uhr — manchmal.“ Wer hat das über Franz Kafka gesagt? Zunächst niemand, denn Franz Kafka hat es über Pablo Picasso gesagt. Doch Eduard Goldstücker hat es zu Kafkas Achtzigstem zitiert und auf Kafką angewandt, bei einem Kafka-Symposion, 1963, in der Nähe Prags, aus dem dann allmählich und mit zwingender historischer Logik der Prager Frühling geworden ist.

Und wenn wir traurig werden, weil er so viel leiden mußte in seinem armen Leben, sollen wir an das Wort Ferdinand Raimunds denken, dem ein Freund sagte: Ich möcht’ gern ein Chirurg sein, der die deine Hypochondrie und Melancholie herausschneidet, und dem Raimund antwortete: Mit was tat ich denn dann meine Stücke schreiben?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung