7078994-1993_28_13.jpg
Digital In Arbeit

Abschied von einem Humanisten

Werbung
Werbung
Werbung

Wer im Westen kannte Albert Karelski? Nur sehr wenige. Er war einer der Wegbereiter der deutschsprachigen Literatur in der ehemaligen Sowjetunion. Obwohl nie Mitglied der kommunistischen Partei, erhielt er durch Zufälle eine Professur als vergleichender Literaturwissenschaftler an der berühmten Lomonossow-Universtität in Moskau und konnte dort eine Nische verteidigen, in der Literatur ohne Politik gelehrt wurde.

In einem zunehmend liberaleren Klima, das freilich gefährlichen Schwankungen unterworfen war, beschäftigte er sich dann als Essayist, Kritiker und Übersetzer auch mit Klassikern der Moderne, mit Franz Kafka, mit Robert Musil, Hermann Broch, mit Thomas Mann und vielen anderen. Albert Karelski gehörte aber auch zu jenen seltenen Professoren, die man vor allem selbst als Schriftsteller und Kritiker in wichtigen Zeitschriften lesen konnte. Nie waren von Karelski irgendwelche politische Verrenkungen zu lesen, mit denen er sich „oben” hätte gutstellen wollen.

Er war ein ungemein gebildeter und fleißiger Mann von ruhiger Art. Zurückhaltend und lebhaft zugleich, leise und dabei außerordentlich effizient. Seine Kraft lag in der fundierten Seriosität, in seinem absolut integren Charakter, dessen Instrumente enormes Wissen und Können waren. Sein Denken nährte sich aus einer sehr sensiblen, künstlerisch getönten Philosophie, die von in die Tiefe dringenden Gedanken über

Dostojewski und Kafka rasch in ein Lächeln übergehen konnte.

Er hatte einen feinen Sinn für sonderbare Zufälle, und ich erinnere mich genau an einen für ihn und sein Leben typischen Vorfall: Als er 1991 das erste Mal in Wien war und im Studentenheim in der Pfeilgasse wohnte, übersetzte er dort Franz Kafkas „Briefe an Milena”. Als ich ihn traf, berichtete er mir, daß ihm etwas Unheimliches geschehen sei: er sei zum nächsten Postamt gegangen, um nach Moskau zu telefonieren, in das Postamt Ecke Josefstädterstraße - Bennogasse. Es war das gleiche Postamt, wohin Franz Kafka so viele Briefe an Milena Jesens-ka postlagernd geschrieben hatte.

Man konnte mit Albert Karelski wunderbare Gespräche führen, über Geschichte, Kultur und Politik philosophieren. Er war ein scharfsinniger Beobachter der Zeit und seiner russischen Umgebung.

Nach der Befreiung von der Diktatur verdunkelte sich der Horizont nun von der anderen Seite.

Albert Karelski, siebenundfünfzig Jahre alt, starb leise -eines Morgens wachte er nicht mehr auf. Unzählige Freunde und Studenten werden den Verlust nie ganz überwinden. Sie könne vielleicht, so gut es geht, in seinem Sinn weiterleben und weiterarbeiten.

Und an die Weisheit Marc Aurels denken, an einen Satz, den dieser - nahe von Wien -niederschrieb: „Alles fließt von dort drüben”.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung