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Chinesisches bei Kafka

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Diese Münchener Dissertation erweist einmal mehr den Nutzen der positivistischen Quellenforschung, indem sie die Bedeutung, die China im Werk von Franz Kafka einnimmt, überzeugend ans Licht hebt. Da überrascht der Satz Elias Canettis: „Der einzige, seinem Wesen nach chinesische Dichter, den der Westen aufzuweisen hat, ist Kafka.“

Der Autor Weiyan Meng stellt Kafka in den Zusammenhang mit der Hinwendung zum Fernen Osten, die seit der Pariser Weltausstellung 1867 in Europa festzustellen ist. Aus dem Gefühl einer tiefen Kulturkrise glaubte man im Osten ein freieres, natürlicheres Leben auf Grundlage des Tao-ismus zu finden. Gustav Mahlers „Lied von Erde“ zeugt davon.

Der Autor setzt schon bei der Kritik des „Jungen Deutschland“ ein, die Österreich gerne mit China gleichsetzte als Inbegriff des Despotischen, Verlogenen, Rückständigen, und dieses Bild lebt in Kafkas Erzählung vom „Bau der Chinesischen Mauer“ auf. Anderseits vermittelt die chinesische Lyrik eine Idylle von Ruhe und Naturnähe an den unter der Industrialisierung leidenden Dichter. Dem sich bedroht fühlenden Juden, der im eigenen Land keine Wurzeln schlägt, stellt sich China als Ideal der Toleranz dar.

Zwar steht sein Satz „China war nie ein aggressiver Staat“ in größtem Widerspruch zu den historischen Tatsachen, denn China sandte, wenn immer eine starke Zentralgewalt dies gestattete, jederzeit seine Armeen nach Korea, Vietnam, Tibet, Zentralasien, bis Indien und Iran und kannte auch religiöse ^Verfolgungen, aber die von Europa Enttäuschten suchten ja, unbelastet von Fakten, eine Utopie als geistigen Zufluchtsort.

Weiyan Meng stellt zunächst fest, daß eine erhebliche Anzahl von Chinabüchern sich in Kafkas Handbibliothek fand, sodann, daß unter den mit ihm befreundeten Schriftstellern China einen hohen Stellenwert einnahm. Von 1912 bis 1916 beschäftigte sich Kafka intensiv mit China. Die angestrebte Ehe mit Felicitas Bauer beispielsweise wäre ihm Eingliederung ins Tao gewesen. '

In Kafkas Vorstellung bleibt ein Chinese klein und schwach, sodaß er für ihn zur Identifikationsfigur schlechthin wird. Gerne verwendet er, besonders im Jahr 1917, chinesische Motive in verschiedenen Erzählungen. Der Nachweis dieser Motive im vierten Kapitel ist der für die Germanistik wichtigste Ertrag dieser Arbeit. Dabei unterlaufen Kafka die üblichen Verwechslungen: die Lohan, zum Beispiel, sind nicht Götterfiguren, sondern Jünger Buddhas.

Der zweite Teil behandelt die Kafka-Rezeption in China, die in der Volksrepublik erstaunlich spät einsetzte, nach 1980 aber rasch das Erzählwerk erfaßte, während in Taiwan die Rezeption schon 1960 begann. Allerdings diente allzu oft der englische Text als Vorlage. In sehr genauen Untersuchungen sieht Weiyan Meng den Ubersetzern auf die Finger, bedauert, abgesehen von zahlreichen Fehlern, vor allem den begrenzten Erkenntnisstand in be-zug auf Kafkas Biographie und die Sekundärliteratur. (Die Tschechoslowakei sei eine deutsche Kolonie, kann man da lesen.)

Faszinierend ist die Stilanalyse, die nicht nur dartut, wie das Chinesische viele Nuancen nicht erfassen kann (etwa wegen des Fehlens des Konjunktivs), sondern auch, wie die Ubersetzer mit so wichtigen Mitteln zur Darstellung innerer Vorgänge wie der erlebten Rede oder mit der begrenzten Erzählperspektive nicht recht zu-rande kommen. Daß die marxistischen Ubersetzer in Kafka nur die Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Welt entdek-ken, ist zu erwarten. Das Spektrum aus der Sicht Taiwans ist weiter und umfaßt auch die religiöse und existenzphilosophische Interpretation.

Mir ist kein anderes Werk bekannt, das so exakt auf die Probleme der Ubersetzung und Rezeption in einer dermaßen verschiedenen Sprache und Kultur eingeht. Damit dürfte es einen hohen Standard setzen. Man wünschte sich solch genaue Untersuchungen über die Ubersetzungen ins Japanische.

KAFKA UND CHINA. Von Weiyan Meng. Ludicium Verlag, München.

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