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Ein Lokalaugenschein in Schelesen/ÇZelizy, wo der "Brief an den Vater" entstand.

Die Pension Stüdl, in der Franz Kafka mehrmals abgestiegen war, existiert nicht mehr. Jedenfalls nicht als Pension, als Wohnhaus am Eingang zum Dorf Schelesen, das heute ÇZelizy heißt, schon, wenn man aus der Richtung Liboch (LibÇechov) kommt. Allerdings scheint das Gebäude, wenn man es mit Fotos aus der Zeit Kafkas vergleicht, baulich einige Einbußen erlitten zu haben. Denn als gepflegt kann man es nicht bezeichnen. Immerhin trägt es eine Aufschrift in tschechischer Sprache, dass dort der Schriftsteller Franz Kafka mehrmals gewohnt habe.

In der Pension Stüdl

Schelesen/ÇZelizy 50 km nördlich von Prag, war ein Lieblingsort Kafkas.Auf drei Seiten von Kiefernwälder umgeben, bot er ihm Gelegenheit zu ausgedienten Spaziergängen, die er sehr liebte.

Zum ersten Mal kommt Kafka 1918 nach Schelesen. Im November quartiert er sich in der Pension Stüdl ein und bleibt dort bis zum April 1919. Es ist kaum anzunehmen, dass der Aufenthalt in dieser "Sommerfrische" zu so später Jahreszeit auf ärztlichen Rat erfolgt ist, um für seine ein Jahr zuvor ausgebrochene Tuberkulose Heilung oder zumindest Linderung zu erfahren. In dieser Gegend sind die Winter eher nasskalt und gerade für einen Lungenkranken wenig geeignet. Wahrscheinlich war es eher eine Flucht aus Prag, der Stadt, von der er sich gleicherweise angezogen wie abgestoßen fühlte. Darüber wissen wir zu diesem Zeitpunkt wenig, mehr schon über seine Beziehung zu Julie Wohryzek, einem jungen tschechischen Mädchen, das er in der Pension kennen gelernt hatte und mit dem er sich dann in Prag verlobte - sehr gegen den Widerstand seines Vaters. Aus der Verlobung wurde auch nichts, weil er kurz darauf Milena Jesenská kennen lernte.

Im November 1919 kehrte Kafka nach Schelesen zurück, blieb aber nur wenige Wochen. In dieser Zeit entstand der berühmte "Brief an den Vater", die Klage über das Unverständnis, das ihm der Vater entgegenbringt. Der "Brief" wurde nie abgeschickt oder überreicht, sodass der Verdacht nicht abzuweisen ist, dass er eher ein literarisches denn ein persönliches Dokument ist.

Noch einmal sucht Kafka Zuflucht in Schelesen. Seine Lieblingsschwester Ottla (Ottilie) hat in dem Ort eine Sommerwohnung gemietet und Kafka verbringt mit ihr dort die Monate August und September1923. Er genießt diesen Aufenthalt sehr, aber seine Krankheit ist nicht mehr einzudämmen und neun Monate später, im Juni 1924, stirbt er in Kirling bei Klosterneuburg in der Nähe von Wien.

Sommerfrische nahe Prag

Wie aber kam Kafka ausgerechnet nach Schelesen? Dieser Ort war die erste deutschspachige Sommerfrische in relativer Nähe von Prag, leicht erreichbar. Viele, hauptsächlich deutsch-jüdische Familien verbrachten dort ihre Ferien und den Urlaub. Die Bauern waren darauf eingestellt, ihren Gästen aus der Hauptstadt im Sommer eine Art Ferienwohnung mit Küche und ein bis zwei Zimmern zu vermieten. Frau und Kinder der Gäste aus Prag verbrachten dort oft die ganzen Sommerferien, die Väter ihren Urlaub, und wenn sie wieder ins Büro mussten die Wochenenden.

Die sommerliche Symbiose brachte beiden Seiten Gewinn: den Gästen Erholung und Entspannung in landschaftlich reizvoller Umgebung, den Einheimischen nebst materiellem Gewinn durch Vermietung an die Gäste und deren Versorgung auch noch eine Erweiterung ihres Horizontes durch den Kontakt mit den Städtern verschiedenster Herkunft und Berufe.

Und Schelesen/ÇZelizy heute? Ein kurzer Besuch vermittelt den Eindruck, dass der Ort samt Umgebung irgendwie den Charakter eines Erholungsgebietes bewahrt hat. Zwar gibt es die Pension Stüdl nicht mehr und es fehlen auch die deutschen und jüdischen Sommergäste. Das einstige Hotel am Beginn der großen Tal-Promenade ist zwar noch vorhanden, aber nicht mehr als Nobel-Herberge. Es ist ein überaus gepflegter Privatbesitz geworden. Überhaupt stellt man fest, dass sich am Rande des Ortes, dort wo er schon an den Wald grenzt, offenbar finanzkräftige Zeitgenossen angesiedelt und ihre mehr oder weniger goßen Ferienhäuser gebaut haben. Der Ort verfügt auch über einen Camping-Platz und ein Motel sowie ein modernes Schwimmbad in der Nähe. Das Gasthaus, in dem sich einst Einheimische und Gäste zu einem oder mehreren Glas Bier trafen und die Weltläufte diskutierten, gibt es auch noch.

Das bäuerliche Anwesen, in dem der Vater des Schreibers dieser Zeilen geboren wurde und an das sich Letzterer aus seiner Kindheit noch erinnert, existiert nur noch zum Teil: Das schöne Fachwerkhaus, das seinem Großvater als Ausgedinge diente, ist längst eingestürzt.

Der Autor war langjähriger Korrespondent in Prag.

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