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Blick zurück ohne Zorn

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HN WEITER WEG. Lebenserinnerungen. Von Julius Deutsch. Amalthea-Verlag, Zürich-Leipzig-Wien.

415 Seiten. Preis 138 S.

Es ist wirklich ein weiter Weg, auf dem Staats-lekretär a. D. Julius Deutsch von der Höhe des Alters zurückblicken kann. Er begann in der Stube eines burgenländischen Dorfwirtshauses, er führte durch die Hinterhofwelt der Wiener Vorstädte von 1900 und — später — durch die nüchterne Gelehrsamkeit der Hörsäle der Universität Zürich in die Führungsgremien der österreichischen Sozialdemokratie am Vorabend des erster Weltkrieges. Für dieses wurde der an vielen Fronten des ersten Weltkriegs eingesetzte Offizier später Wehrexperte Nummer 1. Als solcher hielt Julius Deutsch nach 1918 zunächst als Staatssekretär für Heerwesen Einzug in das erste Kabinett der Republik. Nach dem Ende der ersten schwarz-roten Koalition wechselte Deutsch hinüber an die Spitze der Parteiarmee des Republikanischen Schutzbundes. Durch die Nebel des Februar 1934 ging der Weg zunächst immer schärfer nach links in den spanischen Bürgerkrieg, wo Deutsch der spanischen Republik bis zu deren bitterem Ende, zuletzt als General, diente. Doppeltes Exil, Heimkehr, Aufbau des sozialistischen Verlagskonzerns „Konzentration“; wachsendes Mißvergnügen und Zerwürfnis mit der neuen Führung der SPÖ: das waren die weiteren Etappen der nur herbstlichen Reise.

Noch weiter als die vielen Kilometer, die Julius Deutsch auf den Fahrten und Irrfahrten seines Lebens zurückgelegt hat, ist heute' die Distanz zwischen dem einstigen Exponenten des Austromarxismus und dem heute von seinem Wohnsitz in Grinzing gelassen auf das eigene Leben zurückblickenden Veteranen heißer politischer Kämpfe. Da ist kaum mehr etwas von dem brudermörderischen Haß und der politischen Intransigenz zu spüren, die der Ersten Republik lange vor den Jahren 1933 und 1934 den Todesbazillus eingeimpft hat. Aber auch jene, die von den Deutsch-Memoiren Enthüllungen über Kulissengeheimnisse der heutiger zweiten Regierungspartei erwartet oder befürchtet haben, kommen nicht auf ihre Rechnung beziehungsweise können beruhigt seih. Es bleibt bei kleinen Seitenhieben wie jenen vom Wandel des sozialistischen Zentralorgans, vom „funkensprühenden Kampforgan“ einer vergangenen Epoche zum „routinemäßigen Generalanzeiger der Partei“ (S. 84) oder vom „papierenen Vorhang“ des Schweigens, der vor zur „Unperson“ erklärten Männern niedergelassen wird — mögen es auch Männer sein, die einmal in der ersten Linie des österreichischen Sozialismus standen.

Milde scheint die Abendsonne. Sie vergoldet alle Fluren und Straßen, durch die der Weg des Autors führte. Wie in so vielen Memoirenbüchern ruht sie besonders gefällig auf der Landschaft der Jugend. Hier ist Deutsch aus wacher Erinnerung eine kleine Sozialstudie der „Welt von gestern“ gelungen. Mit großem Interesse nähert man sich dem Lebensabschnitt, in dem der Verfasser in verantwortlicher Stellung wirkend, den Übergang von der großen Armee des Kaisers zur bewaffneten Macht der Republik zu bewerkstelligen hatte. Welch eine Nahtstelle der Geschichte! Doch hier wird man ehrlich enttäuscht. Außer einigen Anekdoten, zum Beispiel von Erlebnissen mit dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch und dem Hinweis auf eine 1921 (f) veröffentlichte Broschüre freut es Deutsch heute nicht sehr, von jenen Jahren zu sprechen. Und doch wäre hier Gelegenheit gewesen, sich der Geschichte zu stellen. Begann doch gerade damals aus der falschen Gleichung österreichische Tradition = Restauration der Habsburger jener fatale Prozeß der Entwurzelung der jungen Waffenträger aus der Erde des österreichischen Vaterlandes, der, wenn auch auf verschlungenen Wegen zum März 1938 führte. Hier war eben Deutsch doch — und er bekennt es an einer Stelle freimütig — ein typischer Vertreter jener im Gefolge Bebels und Adlers im'Grunde übernational denkenden und großdeutsch fühlenden sozialistischen Vätergeneration, die weder zum großen noch zum kleinen Österreich ein richtiges Verhältnis hatte. Es bedurfte junger sozialistischer Kräfte, die nach eigenen Aussagen 1938 für einen Staat in den Kerker gingen, der nicht der ihre war, um hier einen Gesinnungswandel um 180 Grad durchzuführen, der die Leitbilder der Alten korrigierte und die mitunter schwankende Mittelgeneration auf den österreichischen Kurs festlegte.

Aus der gleichen Geisteshaltung erklärt sich auch 1939 und noch später die ablehnende Einstellung von Deutsch und vieler anderer exilierter Sozialismen gegen die Errichtung einer österreichischen Exilregierung. Zeitbefangene Irrtümerl Ob es jedoch von unserem heutigen Standort angängig ist, die Verhinderung der Konstituierung einer österreichischen Exilregierung zugunsten eines unverbindlichen „Office

Austrichien“ mit positiven Zensuren zu versehen (S. 115 ff.), wagen wir füglich zu bestreiten.

Viel sympathischer ist Deutsch da schon, wenn er seine Neigungen für einen christlichen Demokraten von bestem Schrot und Korn, wie es Hofrat Hemala war, zum Ausdruck bringt (S. 84). Interessant auch, daß von den Gegenspielern im Lager der Heimwehr Starhemberg von Deutsch verhältnismäßig milde Zensuren bekommt („an sich kein übelwollender Mensch“, S. 188), wogegen Fey („ehrgeizig, machthungrig“, S. 198) als — was den Tatsachen entspricht — die treibende Kraft zur Abrechnung mit dem Schutzbund erkannt wird.

Parteihistorisches Interesse verdient, daß Deutsch für sich in Anspruch nimmt, die erste Koalition von Sozialisten und Katholiken abgeschlossen zu haben. Wann? Wo? Im Städtewahlkreis Krems-Klosterneuburg. Hier schloß der Autor vor dem ersten Weltkrieg mit einem jungen, politisch tätigen Klosterneu-burger Chorherrn einen Vertrag, daß bei einer Stichwahl die Christlichsozialen — was damals einiges Aufsehen erregte — dem Sozialisten Schlinger ihre Stimmen gaben (S. 133). Deutschs Gesprächspartner aber war niemand anderer als der spätere Fürstbischof (nicht Fürsterzbischof) von Gurk Adam Hefter (S. 133).

Julius Deutsch blickt zurück: Mitunter trüben Nebel den Blick. Niemals aber Haß. Was bleibt als politisches Vermächtnis eines Mannes, dessen Namen einmal — gewollt oder ungewollt — über einer der Fronten des Aufmarsches zum Bürgerkrieg in Österreich stand? Hier wird man vergebens auf tiefe Erkenntnisse und Schlußfolgerungen warten. Halten wir uns aber an einen Satz: „Gewalt ist der eigentlichste und tiefste Sündenfall der Menschheit“ (S. 400). Kein schlechter Kompaß für alle, die noch einen weiten Weg vor sich haben.

P.S.: Ein bewegtes Leben wie jenes von Julius Deutsch hätte sich gewiß in besseren Bildern widerspiegeln können als in den statischen politischen Ansichtskarten und offizielle Kongreßphotos, mit denen das vorliegende Buch illustriert ist.

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