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Der Politiker muß Verantwortung tragen

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Ich halte es für eine absolute Fehldiagnose, unsere Verfassung mit einer „Ruine" zu vergleichen. Ich kann aber auch nicht dem Vergleich vom „Bauherrn", dem vor der Dachgleiche das politische oder intellektuelle Kapital ausgegangen ist, zustimmen.

Die Problematik der Verfassung und der Grund, warum wir hier nie einen Idealzustand erreichen können - gemessen mit jenem Maßstab, den manche an unsere Verfassung anlegen -liegt meines Erachtens darin, daß wir permanent um ein äußerst kunstvolles Gleichgewicht zwischen Statik und Dynamik in unserem Verfassungsrecht bemüht sein müssen. Wir haben statische Elemente in unserer Verfassung, und wir brauchen sie, um die Grundlagen des politischen Systems stabil zu halten, berechenbar zu machen und eine gewisse Kontinuität zu gewährleisten.

Und wir brauchen dynamische Elemente in unserer Bundesverfassung -das übersehen viele -, um mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten zu können. Sie kennen den berühmten Ausspruch des früheren französischen Staatspräsidenten Herriot, der meinte: „Wer die Demokratie stabil halten will, muß sie in Bewegung halten."

Den sicher vorhandenen Ansatzpunkten für Kritik an unserem Verfassungsgebäude möchte ich doch entgegenhalten, in welch hohem Ausmaß sich diese beiden tragenden Elemente Statik und Dynamik in unserer Bundesverfassung bewährt haben. Unsere Verfassung ist zusammen mit jener der Schweiz die älteste Verfassung eines republikanischen Staates in Europa, auch wenn sie „erst" 60 Jahre alt ist.

Und nun zur Dynamik: Wir haben in der Zweiten Republik eine ganze Menge zusammengebracht: im Bereich des Ausbaues des Grundrechtsschutzes, im Bereich des Ausbaues von Kontrollrechten, im Bereich der Füllung von Lücken, die es in der Verfassung gegeben hat, im Bereich des Gemeinderechtes, des Schulwesens etc. Warum soll das nicht auch einmal erwähnt werden?

Daß unser Verfassungsrecht in einer permanenten Entwicklung begriffen ist, gebe ich zu. Wenn wir im Durchschnitt pro Jahr mehr als zehn Verfassungsgesetze oder Gesetze mit Verfassungsbestimmungen beschließen, so ist das nicht unproblematisch, aber es hat seine Begründung in dem Element der Dynamik, auf das ich vorhin hingewiesen habe. .

Und so gibt es in der Tat eine ganze Reihe von Reformvorhaben, die uns auch in nächster Zeit beschäftigen werden und die man in Ruhe und ohne Hast, aber mit einem Blick für das Gesamtkonzept der Verfassung in Angriff nehmen soll. Ich meine das Haushaltsrecht, den Bereich der direkten Demokratie, den Bereich Föderalismus, den Bereich der Grundrechte, den Bereich des Ausbaues von Kontrollrechten etc. (Ich persönlich glaube, daß auch der Ausbau des Wahlrechtes dazugehört, aber scheinbar bin ich hier ein wenig utopisch.)

Ich habe schon gesagt, daß die Verantwortung des Politikers nicht nur ein Verfassungsproblem ist, weil es neben der rechtlichen, der verfassungsrechtlich normierten Verantwortung auch eine politische im weiteren Sinn des Wortes und eine funktionelle Verantwortung gibt. Und die Verbindung zu der Verfassungsreform sehe ich darin, daß natürlich die politische und rechtliche Verantwortung funktionierende Kontrollinstrumente und Minderheitsrechte voraussetzt.

Der unbestrittene Schritt Mitte der siebziger Jahre zum Ausbau von Min-derheits- und Kontrollrechten soll und darf kein einzelner Schritt gewesen

sein. Und wenn es wahr ist - und ich persönlich glaube das -, daß die Kontroll- und Minderheitsrechte in den Landesverfassungen heute weniger entwickelt sind als auf Bundesebene (nicht zuletzt deshalb, weil die Fortschritte der siebziger Jahre noch nicht überall mitgemacht wurden), dann wird man eben auch im Bereich der Landesverfassungen Überlegungen anstellen müssen, weil das, was über die politische Verantwortung auf Bundesebene wahr ist, doch nicht auf Landesebene unwahr sein kann.

Alles in allem möchte ich unserer Verfassung durchaus nicht jenes

schlechte Zeugnis ausstellen, das manche zu Papier bringen. Ich glaube, daß man gerecht sein muß. Ich glaube, daß man das Spannungsfeld sehen muß, in dem unsere Verfassung steht. Es ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung, daß wir auf dem festgefügten Boden dieser Verfassung den politischen Auftrag erfüllen, für den die Verfassung ja nur einen Rahmen setzen kann und für den wir dann im einzelnen jene Verantwortung tragen müssen, von der heute die Rede ist.

(Kernaussagen eines Diskussionsbeitrags des Ge-schäflsführenden Klubobmannes der SPÖ bei der ibf-Jubiläumsveranstaltung am 30. September 1980.)

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