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Chance für Demokratie

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Die österreichische Bundesverfassung des Jahres 1920 hat ihre Bewährungsprobe in der Zweiten Republik erfahren. Getragen vom Grundkonsens aller bedeutenden politischen Kräfte in diesem Land wurde die Verfassung im großen und ganzen respektiert.

Sieht man vom Fall Habsburg im Jahr 1963 ab, gab es eigentlich kein Ereignis, das man als Verfassungskrise einstufen könnte. Trotz mancher Lük-ken hat die Bundesverfassung ausgereicht, um politische Entwicklungen zu kanalisieren und ein Funktionieren demokratischer Entscheidungsregeln sicherzustellen.

Wahrscheinlich war dies vor allem deshalb möglich, weil die Verfassung eher wertneutral konzipiert ist. Sie ist von der Qualität her kein Wertekatalog, sondern eine Geschäftsordnung der Demokratie.

Diese Zufriedenheit über das Funktionieren der Grundordnung unseres politischen Systems darf jedoch nicht dazu führen, daß Reformnotwendigkeit und Reformmöglichkeiten geleugnet werden. In vielen Punkten ist die Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zu einem Problem geworden, dem sich eine Verfassungsreform nicht verschließen darf.

Föderalismus, Neugestaltung des Budgetrechtes, Parlamentsreform, Eindämmung der Gesetzesflut, Verbesserung der Instrumente der unmittelbaren Demokratie, Grundrechtsreform -das alles sind Reformthemen mit Aktualität.

Inwieweit die breite Öffentlichkeit solche Reformbewegungen geistig mitvollzieht oder auch nur registriert, läßt sich schwer beantworten. Man wird jedoch nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß das Interesse der Öffentlichkeit an solchen Änderungsprozessen eher gering ist.

Das Verfassungsbewußtsein der Bevölkerung ist unterentwickelt. Dies scheint durch die Tatsache bewiesen, daß das Wissen der Bevölkerung über die Bedeutung und die Inhalte der österreichischen Bundesverfassung bescheiden ist. Es ist dies ein Faktum, das letztendlich auch der Effektivität des Systems unserer politischen Bildung kein gutes Zeugnis ausstellt.

Es darf allerdings nicht zur Resignation verleiten, sondern sollte zwangsläufig dazu führen, daß Reformen der Bundesverfassung von vornherein mit einer erhöhten Öffentlichkeit versehen werden. Jede Verfassungsreform von Bedeutung braucht eine Informationskampagne.

Das, was seinerzeit vot der Volksabstimmung von der Bundesregierung für die Information über Probleme der Kernenergie getan wurde, könnte ohne weiteres auch hier als Modell dienen. Der Bevölkerung soll bewußt gemacht werden, was eine Reform bedeutet und worum es dabei geht.

Mehr Wissen über die Verfassung und über die Verfassungsreform bedeutet auch Anregung, sich stärker politisch im Dienste der Demokratie zu engagieren. Verfassungsreform muß daher mehr als eine Diskussion zwischen Experten und eine intellektuelle Auseinandersetzung sein. Sie bietet vielmehr eine besondere Chance zur Motivation der Demokraten in der Demokratie.

(Zusammenfassung eines Diskussionsbeitrages von Staatssekretär a.D. Heinrich Neisser bei der ibf- Jubiläumsveranstaltung am 30. September 1980.)

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