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Die Verfassung 1934

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Die Verfassung 1934 hatte dem Kanzler die Führung in der Bundesregierung eingeräumt (Art. 81, Abs.l) und ihn ermächtigt, die Richtlinien der Politik zu bestimmten (Art. 93). Dem Kanzler stand die Regierung in der Regierung zu. Innerhalb der Richtlinien hatte aber jeder Minister sein Ressort selbständig zu leiten. Diese Bestimmung war dem Art. 56 der Weimarer Verfassung nachgebildet; sie findet sich heute im Bonner Grundgesetz.

Merkl hat die Führerstellung des Kanzlers nach der Verfassung 1934 untersucht und kam zum Ergebnis, daß sie rechtlich in jenen bescheidenen Grenzen gehalten war, die die Weimarer Verfassung dem Reichskanzler eingeräumt hatte, und daß sie gegenüber dem Kanzlertyp der Bismarck-Verfassung weit zurückstand. Selbst nach der Verfassung 1934 war die Bundesregierung kein Büro, an dessen Akten nur eine Person entscheidenden Anteil hatte (amerikanisches Präsidialregime); Regierungskompetenzen waren viel mehr der kollegialen Behandlung im Ministerrat unterzogen.

Das B-VG. stellt dagegen den Kanzler nicht über die anderen Minister. Seine Stellung innerhalb der Bundesregierung und als Ressortminister überragt nicht die Stellung seiner Kollegen.

Geänderte Verfassungwirklichkeit

Hier entsteht jedoch die Frage, ob man nicht vielleicht dann von einem Regierungschef sprechen kann, wenn man nicht nur den Verfassungswort- laut heranzieht, sondern auch die von der Verfassung offengelassenen tatsächlichen Möglichkeiten der Politik. Der Bundespräsident kommt wohl für eine solche Funktion nicht in Frage, er kann nicht die politischen Grundentscheidungen in Kabinett und Parlament bestimmen, sondern er bestimmt nur einen Mann, den Bundeskanzler. Der Bundespräsident ist, so besehen, ein statisches Element der Verfassung; dazu kommt noch, daß er keine parteipoli tischen Funktionen besitzt. Der vom Bundespräsidenten bestimmte Bundeskanzler, der im allgemeinen auch Parteifunktionär ist, kann demgegenüber als dynamisches Element bezeichnet werden, allerdings gehemmt durch seine „primus-inter-pares“- Stellung in der Bundesregierung.

Der Übergang vom System der Koalitionsregierung zur Einparteienregierung bedeutet aber ohne Zweifel auch eine Änderung dieser Stellung des Bundeskanzlers. Vor allem der Charakter des Einstimmigkeits- prinzips in der Regierung, das neben dem Zwang, sowohl das Vertrauen des Nationalrates, als auch das des Bundespräsidenten zu besitzen, eine weitere Eindämmung und Hemmung des Bundeskanzlers ist, ist ein anderer geworden: besonders der Veto-Charakter ist weitgehend verlorengegangen. In einer Einparteienregierung, deren Kanzler gleichzeitig Parteiführer ist und der im Parlament die absolute Mehrheit hinter sich hat, hat dieser natürlich eine ungleich stärkere Stellung als in einer Koalition fast gleich starker Parteien, von denen jede durch die Ausübung des Vetos in der Regierung eine Beschlußfassung verhindern kann. In einer Einparteienregierung kann der Bundeskanzler sehr wohl zum Regierungsführer werden, und — auch wenn sich dies nicht aus dem Verfassungswortlaut ergibt — eine Stellung erlangen, die der des britischen Premierministers und des deutschen Bundeskanzlers („Kanzlerdemokratie“) gleicht.

Obwohl also der Verfassungswortlaut dem Bundeskanzler nicht die Stellung eines Regierungsführers zuweist, sondern nur die Stellung eines für ein gewisses Mehr an Funktionen verantwortlichen Ministers, kann sich in der Verfassungswirklichkeit für den Bundeskanzler die Stellung eines Regierungschefs ergeben.

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