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Verfassungsgerichtshof-Rodeo

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Die Ereignisse rund um die „Causa Lotheissen“ haben eine österreichische Einrichtung in den Blickpunkt des Interesses gerückt, deren ungemein politische Bedeutung nicht nur im Zusammenhang mit leidigen Personalfragen gesehen iverden sollte.

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Die Ereignisse rund um die „Causa Lotheissen“ haben eine österreichische Einrichtung in den Blickpunkt des Interesses gerückt, deren ungemein politische Bedeutung nicht nur im Zusammenhang mit leidigen Personalfragen gesehen iverden sollte.

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine Einrichtung des Staates, die die Aufgabe hat, die Verfassungsmäßigkeit bei der Ausübung der Staatsgewalt rechtlich zu garantieren. Historisch ist der VfGH aus dem Reichsgericht (Staatsgrundgesetz 1867) hervorgegangen, das allerdings weit weniger Kompetenzen hatte als heute der Verfassungsgerichtshof. Im Bundesverfassungsgesetz von 1920 waren dann bereits Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof als Höchstgerichte vorgesehen, wobei es jedoch in der Zwischenkriegszeit zu mehrmaligen wesentlichen Änderungen kommen sollte. 1934 konnte der VfGH nicht entscheiden, weil er nur dann zusammentreten konnte, wenn alle seine Mitglieder anwesend waren.

Die Kompetenzen des VfGH sind in den Art. 137 bis 145 Bundesverfassungsgesetz geregelt.

Insbesondere ist dem VfGH die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit (Art. 139) sowie die Prüfung von Verordnungen auf ihre Gesetzmäßigkeit (Art. 140) übertragen.

Rechtspolitisch bedeutet dies nicht nur eine Kontrolle gegenüber der Gesetzgebung des Parlaments und der Landtage, und somit auch eine Kontrolle der jeweiligen Mehrheit, sondern auch die Aufgabe, die dem bundesstaatlichen Aufbau Österreichs entsprechende volle Gleichberechtigung zwischen Bund und Ländern auf rechtlichem Wege herzustellen. Zahlreiche Bundesländer haben von diesem Recht, Bundesgesetze, die ihrer Meinung nach Länderkompetenzen verletzen, beim VfGH anzufechten, Gebrauch gemacht.

Als Wahlgerichtshof (Art. 141) erkennt der VfGH vor allem über die Anfechtung von Wahlen. (Eine Nachwahl in einigen Wiener Wahlkreisen ist 1970 auf Grund eines entsprechenden Erkenntnisses des VfGH durchgeführt worden!)

In seiner Funktion als Staots-gerichtshof „erkennt der VfGH über die Anklage, mit der die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit der obersten Bundes- und Landesorgane für die durch ihre Amtstätigkeit erfolgten schuldhaften Rechtsverletzungen geltend gemacht wird“ (Art. 142 und 143).

Das ist — solange Regierungsparteien Regierungsmitglieder auf jeden Fall stützen — allerdings nur eine relative Befugnis.

In der Zeit der großen Koalition hatte der VfGH hingegen enorme Bedeutung, da die beiden Großparteien im Parlament spielend Verfassungsgesetze und somit Verfassungsänderungen beschließen konnten. Entscheidungen, wie die authentische Interpretation des Verstaatlichungs-Entschädigungsgeset-zes, wie auch die Entscheidung in der Habsburg-Frage zeigten allerdings die politische Involvierung der Hödhstrichter.

Kein Wunder also, daß auch die Bestellung der Mitglieder immer wieder ein politisches Tauziehen auslöst. Der VfGH besteht insgesamt aus 20 Mitgliedern (einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, 12 weiteren Mitgliedern und 6 Ersatzmitgliedern), die alle vom Bundespräsidenten ernannt werden. Präsident, Vizepräsident, 6 weitere Mitglieder und 3 Ersatzmitglieder werden von ihm auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt; 3 Mitglieder und 2 Ersatzmitglieder werden auf Grund von Dreiervorschlägen des Nationalrates, 3 Mitglieder und ein Ersatzmitglied auf Grund von Dreiervorschlägen des Bundesrates bestellt (Art. 147).

Die SPÖ stellt derzeit nicht nur die Bundesregierung, sie hat auch im National- und Bundesrat die Mehrheit (in der Zeit der großen Koalition sind ja Entscheidungen über die Neubesetzung von Richterstellen bereits im vorparlamentarischen Raum gefallen). Daher gab es auch aus der Koalitionszeit noch eine Vereinbarung, daß für „schwarze“ Richterposten der ÖVP das Recht der Erstattung eines Dr.eiervorschlages zusteht und analog der SPÖ bei Ausscheiden eines ihrer Richter.

Dieses System funktionierte auch bislang klaglos. Als der der SPÖ nahestehende Dr. Dostal ausschied, wurde von der SPÖ ein neuer Richter nominiert; die ÖVP hatte auch nichts dagegen einzuwenden, daß die SPÖ ein weiteres Mal einen „ihrer“ Posten besetzte, nämlich mit Doktor Gottlich (der immerhin Konsulent des SPÖ-Parlamentsklubs war).

Als aber dann Hofrat Vejborny im Februar 1972 — also vor mehr als einem Jahr — starb und die ÖVP einen Dreiervorschlag machen wollte, wurde sozialistischerseits abgewunken: da müsse man sich zusammensetzen, da müsse erst geredet und verhandelt werden, ein Abkommen gebe es da nicht.

Die ÖVP war verstimmt und sprach von „Wortbruch“. Die SPÖ zog den Innsbrucker Univ.-Prof. No-wakovski in Erwägung, ließ ihn aber wegen seiner angeblichen NS-Ver-gangenheit fallen. Der Spitzenkandidat des ÖVP-Vorschlages, Dr. Michael Graff, trug das Hin und Her mit Gelassenheit und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein.

Im Frühjahr 1973 wurde es dann aber höchste Zeit, eindlich die freie Richterstelle zu besetzen. Auch die FPÖ gab einen Dreiervorschlag ab, obwohl es inzwischen klar geworden war, daß die SPÖ von ihrer Mehrheit im Nationalrat Gebrauch machen werde.

Mit der Plazierung von Generalanwalt Dr. Lotheissen, der durchaus nicht als „SPÖ-Mann“ bezeichnet werden kann, an die erste Stelle, bewegte Klubobmann Gratz die FPÖ zur Zurücknahme ihres Vorschlages. Noch am 13. Februar wurden Tele-phonate geführt, Klubobmann Gratz versicherte sich der Zustimmung seiner drei Kandidaten.

Am 14. Februar beschloß der Nationalrat mit den Stimmen der SPÖ dann auch den eilig zusammengebastelten Vorschlag.

Bundespräsident Jonas unterzeichnete die Ernennung und Bundeskanzler Kreisky vollzog die Gegenzeichnung; Justizminister Broda enthob den Generalanwalt seines Amtes als stellvertretender Generalprokurator.

In der Zwischenzeit hatte es sich Lotheissen aber anders überlegt: er lehnte die Übernahme des Amtes aus „gesundheitlichen Gründen“ ab. Er ist also gesund genug für den Generalanwalt — der er bleiben will — aber zu krank für einen Verfassungsrichter.

Die Juristen waren am Zug; die einen folgerten, daß mit Ernennung Lotheissens der Dreiervorschlag konsumiert sei und der Nationalrat einen neuen Dreiervorschlag zu erstatten hätte (so der bekannte Wiener Univ.-Prof. Manfried Welan und

— pikanterweise — auch der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes, dessen Gutachten Bundeskanzler Keisky anfangs zurückhielt).

Die anderen meinten, daß der Bundespräsident den Zweitgereihten ohne weiters ernennen könne (so Lotheissen selbst sowie ein Gutachten des VfGH, der aber die Abgabe von Gutachten früher stets abgelehnt hatte.

Der Bundespräsident entschied hurtig: er ernannte den Zweitgenannten, BSA-Mitglied Dr. Piska, der bereits seit Vakanz des Richteramtes von Seiten der Sozialisten immer wieder als „Nummer eins“ genannt worden war.

Ob abgekartetes Spiel oder nicht — die Angelegenheit ist eher unerfreulich für die Regierungspartei, denn der Bundespräsident hat sich

— wie einst bei Einsetzung der Minderheitsregierung — einer auffallenden Eile befleißigt und offenbar ohne unbestrittene juristische Beratung eine — sicherlich politische — Entscheidung getroffen.

Es wird abzuwarten sein, wie die Mehrheitspartei im Parlament und der Bundespräsident das nächste Mal entscheiden, oder geht es allen Ernstes nur darum, eine sozialistische Mehrheit in den obersten Gerichtshöfen zu installieren?

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