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Meinen Sie das ernst, Herr Abgeordneter?

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Österreichs Politiker sind geständig und bekennen reumütig ihre Schuld ein. Sie bekennen sich schuldig, gegen das Postulat der Gleichheit verstoßen zu haben. Oder tun zumindest so, als würden sie ihre Schuld einbekennen. In letzter Zeit gibt es kaum einen Politiker, der nicht bereit und in der Lage wäre, die Vorschläge der Kollegen zum Abbau der Politikerprivilegien immer wieder zu übertrumpfen. Privilegien-Abbau ist „in“: Ein Teil der Immunität der Abgeordneten soll fallen, der „Doppelverdienerei“ soll ein Ende bereitet werden. Meinen es die Politiker ernst mit der so plötzlich zur Schau gestellten Askese?

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Österreichs Politiker sind geständig und bekennen reumütig ihre Schuld ein. Sie bekennen sich schuldig, gegen das Postulat der Gleichheit verstoßen zu haben. Oder tun zumindest so, als würden sie ihre Schuld einbekennen. In letzter Zeit gibt es kaum einen Politiker, der nicht bereit und in der Lage wäre, die Vorschläge der Kollegen zum Abbau der Politikerprivilegien immer wieder zu übertrumpfen. Privilegien-Abbau ist „in“: Ein Teil der Immunität der Abgeordneten soll fallen, der „Doppelverdienerei“ soll ein Ende bereitet werden. Meinen es die Politiker ernst mit der so plötzlich zur Schau gestellten Askese?

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Die Stellung des Politikers in der Gesellschaft hat viele Facetten. Ähnlich wie der Arzt von der Bevölkerung oft zum „Gott im weißen Mantel“ hochstilisiert wird, gilt der Politiker nicht selten als über Recht und Unrecht erhabener Sonderstaatsbürger. Diese immer wieder auch gerne gepflegte Fehleinschätzung hat freilich einen wahren Kern: Die „Immunität“ der Abgeordneten zum Nationalrat, der Bundesräte und der Landtagsabgeordneten.

Die Immunität der Nationalratsabgeordneten ist in Artikel 57 der Bundesverfassung geregelt. Dort heißt es in Absatz 2, kein Mitglied des Nationalrates dürfe wegen einer strafbaren Handlung, ausgenommen die Ergreifung auf frischer Tat bei VerÜbung eines Verbrechens, ohne Zustimmung des Nationalrates verhaftet oder sonst behördlich verfolgt werden. Die zur Strafverfolgung berufenen Behörden können aber sogenannte Auslieferungsbegehren an den Nationalrat richten, die vom Immunitätsausschuß zu behandeln sind.

Als der Parlamentarismus in Österreich noch in den Kinderschuhen steckte, stellte der Schutz der Abgeordneten vor behördlichem Zugriff durch ihre Immunität eine für das Funktionieren des parlamentarischen Systems unverzichtbare Notwendigkeit dar. Damals, als sich alle Parlamtarier (nicht nur jene der Oppositionsparteien) als kontrollierendes Gegengewicht zur übermächtigen Verwaltung verstanden, hätten sicher viele Abgeordnete, wären sie durch die Immunität nicht vor Verfolgung sicher gewesen, eher den Mund gehalten als ihre Existenz zu riskieren.

Die Immunität schützte vor Verhaftung

Auch von 1945 bis zum Abzug der Besatzungstruppen hatte die Immunität ihren Sinn. Mehrfach war es zur Verhaftung von Abgeordneten gekommen. Am 24. Juni 1946 gab es im Nationalrat eine „Dringliche Anfrage“ zur Verhaftung von Landtagsabgeordneten. Den Protokollen der V. Gesetzgebungsperiode von 1945 bis 1949 zufolge gab es am 27. März 1947 eine Anfrage im Nationalrat, die unter folgendem Stichwort für die Nachwelt festgehalten ist: „Verhaftung des Bundesrates Josef Mayer durch eine Besatzungsmacht.“

Die 202 Immunitätsfälle, die dem zuständigen Ausschuß seit 1945 von den Behörden vorgelegt worden sind, zeigen eine deutliche Tendenz: Schützte die Immunität den Abgeordneten in den ersten Jahren der Zweiten Republik noch vor unzähligen Ehrenbeleidigungsklagen für im Zusammenhang mit ihrer politischen Tätigkeit getroffene Aussagen, so wird in letzter Zeit immer häufiger die Aufhebung der Immunität beantragt, damit Abgeordnete für ihre Untaten als Verkehrsteilnehmer zur Verantwortung gezögen werden können.

Seit 1945 sind die Behörden 78mal ' (38,6 Prozent der Fälle) im Zusammenhang mit Ehrendelikten an den Immunitätsausschuß herangetreten. In 75 Prozent dieser Fälle (59mal) wurde die Immunität der betroffenen Abgeordneten nicht aufgehoben. In der Häufigkeit kommen die Körperverletzungsdelikte an die vorgenannte Gruppe fast heran: 66mal (32,7 Prozent) wurde von den Behörden der Verdacht auf eine meist im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall begangene Körperverletzung zum Anlaß für das Auslieferungsbegehren genommen. Im Gegensatz zu den Ehrendelikten wurde bei Körperverletzungen praktisch immer die Immunität aufgehoben: Von den 66 Fällen wurde 64mal dem Ersuchen der Behörde entsprochen.

Kamen Abgeordnete mit dem

Pressegesetz in Konflikt, Was zwölfmal vorkam, wurde die Immunität in der Regel nicht aufgehoben (elfmal). Relativ häufig sind auch Übertretungen der Straßenverkehrsordnung: Elfmal wurden Auslieferungsbegehren gestellt, achtmal wurde entsprochen, in zwei Fällen wurde das Begehren zurückgezogen, einmal wurde die Immunität nicht aufgehoben.

Die bisherige „Auslieferungspraxis“ zeigt deutlich, daß die von der SPÖ favorisierte Neuregelung kaum

und Autorowdys, die schon bisher ausgeliefert wurden, werden in Hinkunft generell verfolgbar sein.

Jusitzminister Christian Broda hat das Wort vom „gleichen Zugang zum Recht“ geprägt. In Abwandlung dessen könnte man den Wunsch formulieren, daß es auch einen „gleichen Zugang zum Unrecht“ geben sollte. Schließlich ist es nicht ganz zu verstehen, wenn eine Bezirkshauptmannschaft das Verfahren gegen einen auf der Autobahn beim Rasen ertappten Abgeordneten einstellt, nachdem der Nationalrat die Aufhebung der Immunität bereits beschlossen hat.

Auffallend ist, daß in jeder Gesetzgebungsperiode bestimmte Abgeordnete gewissermaßen zu Stammgästen des Immunitätsausschusses wurden: In der Periode von 1949 bis 1953 zählte etwa der WdU-Mandatar Viktor Reimann zu ihnen, der mehrfach des Verstoßes gegen das Pressegesetz bzw. das Strafgesetz (Übertretung gegen die Sicherheit der Ehre) verdächtigt wurde. Man findet auch Namen wie Krauland, Maleta, Schärf und Hurdes.

In den Jahren, als die ÖVP die Alleinregierung stellte (1966-1970), fällt auf, daß die Spitzenpolitiker der Opposition in den Ehrenbeleidigungsfällen eindeutig dominieren: Bruno Pittermann und Bruno Kreisky (je zweimal), Hertha Firnberg, Christian Broda und auch Friedrich Peter, beschäftigten den Immunitätsausschuß.

Nach 1970 fielen im Immunitätsausschuß im Zusammenhang mit Ehrendelikten weiter Namen wie Kreisky, Karl Blecha, Leopold Gratz, Heinz Fischer oder Fritz Marsch. Von der ÖVP kann Fritz König allerdings mit Stolz von sich behaupten, dreimal den Ausschuß beschäftigt zu haben. Auch Herbert Kohlmaier wurde „üble Nachrede“ von den Behörden vorgeworfen. Die VP-Abgeordneten Tödling und Gorton hingegen wurden des Verstoßes gegen das Lebensmittelgesetz bzw. gegen die Marktordnung bezichtigt.

Handelt es sich bei der Immunität der Abgeordneten um ein generelles und teilweise berufsnotwendiges Privileg, so gibt es auch Privilegien,

für die man nicht so leicht eine Begründung findet, die auch nicht so leicht faßbar sind. Gemeint ist etwa die Frage der Politikereinkommen.

Nach dem „Privilegienabbau“ verdienten die Politiker besser als vorher

Ein Beispiel: Bis zum „Privilegienabbau“ von 1972 kam ein Minister auf 115 Prozent des Bezuges eines Sektionschefs, allerdings steuerfrei. Danach bekam er 200 Prozent, mußte aber die Hälfte versteuern. Resultat: Netto blieben ihm immer noch etwa 150 Prozent gegenüber den früheren 115. Nach der nun angekündigten zweiten Etappe des „Privilegienabbaues“ sollen Minister „nur“ noch 190 Prozent des Sektionschefs zur Hälfte steuerfrei bekommen. Damit würden sie netto immer noch wesentlich mehr herausbekommen als vor dem ersten „Privilegienabbau“ 1972.

Sehr aktuell ist auch die Frage, welche Einkommen Politiker zusätzlich beziehen dürfen bzw. sollen. Beamteerhalten etwa neben ihrem Politikereinkommen auch noch ihren

vollen Aktivbezug, ohne dafür eine entsprechende Leistung erbringen zu müssen. In Hinkunft, so schlägt es die SPÖ analog zu den Bestimmungen in der BRD vor, sollen Beamte für die Dauer der Ausübung ihres Mandates karenziert werden und nur so viel verdienen, wie sie als Pensionisten bekämen. Ferner sollen diese Beamten nicht vorrücken, aber bei ihrer allfälligen Rückkehr nach Beendigung ihrer politischen Tätigkeit so gestellt werden, als wären sie zeitgerecht befördert worden.

Eine gerechte Lösung wird sicher nie zu finden sein. Auch sollte man sich davor hüten, einen Klassenkampf mit umgekehrten Vorzeichen zu führen. Schließlich profitieren nicht nur Beamte finanziell, auch freiberuflich Tätige und Unternehmer können theoretisch - ganz abgesehen vom Fall Androsch - materielle Vorteile aus der Politiker-Tätigkeit ziehen.

Abgesehen von den vielen gutgemeinten Reformvorschlägen, steht klar und deutlich fest: Die Vor- und Nachteile, die die Verknüpfung der politischen Tätigkeit mit bestimmten Berufen mit sich bringen, prägen auch die Zusammensetzung des Nationalrates (siehe Tabelle): Fast 32 Prozent der Nationalratsabgeordneten kommen aus dem öffentlichen Dienst, über 26 Prozent aus dem Bereich Sozialversicherung, ÖGB, Kammern und Parteien. Der einfache Industriearbeiter kann sich auch in der SPÖ zu einer kleinen Minderheit zählen.

Die berufliche Struktur des Nationalrates ist freilich kein österreichisches und schon gar nicht ein temporäres Problem. Im Jahre 1922 kamen beispielsweise auch rund 50 Prozent der Abgeordneten zum Nationalrat aus den Bereichen öffentlicher Dienst, Parteien, Kammern und Gewerkschaft. Es gab auch damals viele Multi-Funktionäre und auffallende Verfilzungen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen.

Neben 37 Akademikern und vier Geistlichen saßen damals auch 13 Schriftsteller und Journalisten im Nationalrat. Eine Zeitung, die etwas auf sich hielt, hatte im Parlament einen Vertreter sitzen, könnte man fast sagen. Heute sind viele freie Berufe kaum oder gar nicht im Nationalrat vertreten. Auch Journalist sitzt keiner im Hohen Haus.

Neues bringen wird. Nach dem entsprechenden Antrag der SPÖ soll die parlamentarische Immunitat für alle strafbaren Handlungen aufgehoben werden, die nicht in einem inneren Zusammenhang mit der Tätigkeit eines Nationalratsabgeordneten stehen. Im Klartext: Jene Schnellfahrer

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