7017782-1988_33_04.jpg
Digital In Arbeit

Überholt jetzt die Immunität!

19451960198020002020

Ein Plädoyer für eine neue berufliche Immunität, insbesondere zum Schutz von Opposition und Minderheit, auf der Basis des Strukturwandels gegenwärtiger Politik.

19451960198020002020

Ein Plädoyer für eine neue berufliche Immunität, insbesondere zum Schutz von Opposition und Minderheit, auf der Basis des Strukturwandels gegenwärtiger Politik.

Werbung
Werbung
Werbung

Verfassungen sind nicht selten Museen der politischen Geschichte. Auch unsere Bundesverfassung ist in wichtigen Bereichen so.

Der Absolutismus gab seine Macht erst nach j ahrhundertelan-gen Kämpfen auf. Die parlamentarischen Privilegien und Immunitäten wurden in Erinnerung an diese Kämpfe in einer Zeit festgelegt, in der sie ihren ursprünglichen Sinn schon weitgehend verloren hatten. Was ursprünglich ein Ersatz für Grundfreiheiten und Menschenrechte war, konnte so zum sachlich nicht gerechtfertigten Vorrecht der herrschenden Mehrheit werden.

Antiquiertes, Überholtes erfüllt gesellschaftliche Funktionen. Ein Schutzrecht kann zum Vorrecht werden. So geschah es mit der au-

ßerberuflichen Immunität.

Sie findet sich in der Pielers-dorfsehen Verfassung 1848, in der Märzverfassung 1849, im Krem-sierer Entwurf, aber erst 1861 definitiv im Gesetz „in betreff der Unverletzlichkeit und Unverant-wortlichkeit der Mitglieder des Reichsrates und der Landtage“ verwirklicht. Nach der Dezemberverfassung 1867 waren die Verhaftung und die gerichtliche Verfolgung von Abgeordneten ohne Zustimmung des Parlaments ausgeschlossen.

Nach Einführung der demokratischen Republik wurde die Immunität im Vergleich zur Monarchie ausgedehnt: Jede behördliche Verfolgung ohne Zustimmung des Parlaments war ausgeschlossen.

Die Bundesverfassung 1920 erweiterte das Institut noch mehr. Die Verhaftung bei Ergreifung auf frischer Tat durfte nur noch im Falle der Verübung eines Verbrechens erfolgen. Die Novelle 1929 legte die Pflicht des Parlaments fest, über ein Ersuchen der zuständigen Behörde um Zustimmung zur Verfolgung binnen sechs Wochen zu beschließen.

Reagierte das Parlament auf ein Auslieferungsbegehren nicht innerhalb dieser Frist, galt dies als Zustimmung. Das wirklich Neue daran war die Bestimmung: „Ansonsten dürfen Mitglieder des Nationalrates ohne Zustimmung des Nationalrates wegen einer strafbaren Handlung nur dann behördlich verfolgt werden, wenn diese offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des betreffenden Abgeordneten steht.“

Das hat die Behörde von sich aus zu entscheiden. Sie hat jedoch eine Entscheidung des Nationalrates über das Vorliegen eines solchen Zusammenhanges dann einzuholen, wenn dies der betreffende Abgeordnete oder ein Drittel der Mitglieder des zuständigen Ausschusses verlangt.

Im Falle eines solchen Verlangens hat jede behördliche Verfolgungshandlung sofort zu unterbleiben oder ist eine solche anzubringen. So weit, so gut.

Aber bei Politisierung aller Lebensbereiche und der Entwicklung der politischen Tätigkeit zu Vollberuf und Lebensstellung wird das offensichtlich offenkundig immer weniger offenbar. Im Zweifel kann vom Parlament aus der Betreffende wieder „herausgefischt“ werden.

Der Rechtsstaat ist als Verfas-sungs-, Gesetzes-, Grundrechtsstaat durchgesetzt, es bestehen unabhängige Gerichte und Kontrollen, die Öffentlichkeit und die Opposition kommen dazu — wem nützt eine sachlich nicht gerechtfertigte außerberufliche Immunität?

Geschichte und Geschichten sind keine ausreichende Rechtfertigung, und so lange die Mehrheit die Auslieferung beschließen kann, besteht kein Schutz der Minderheit.

Die Funktionsfähigkeit des Parlaments und die Würde des Hohen Hauses sind keine Rechtfertigung. Der Wahrung und Mehrung des Ansehens des Parlaments und der Parlamentarier dient die Aufhebung mehr. Denn sie bewirkt, daß es mit rechten Mitteln zugeht, nämlich mit Recht und Gericht. Die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und das Recht auf den gesetzlichen Richter sollen auch für den Parlamentarier gelten.

Einen gewissen Sinn hätte das Institut als Schutz der Opposition und der Minderheit. Gleichzeitig müßte aber im Sinne des freien Mandats und des Gewissens des einzelnen Abgeordneten selbst dann ihm überlassen bleiben zu entscheiden, ob er nicht selbst den Weg zum Gericht vorzieht.

Die außerberufliche Immunität kann entfallen, soll fallen.

Anders ist es mit der beruflichen Immunität. Sie wird oft als parlamentarische Redefreiheit bezeichnet. Der Grundsatz, daß die Parlamentarier wegen ihrer Abstimmungen und der in Ausübung ihres parlamentarischen Berufes gemachten mündlichen oder schriftlichen Äußerungen keiner rechtlichen Verantwortlichkeit außerhalb des Parlaments unterliegen, ergänzt somit den Grundsatz des freien Mandats.

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit und des Parlamentarismus verlangt freilich hier eine Modernisierung. Wenn die berufliche Immunität die berufliche Freiheit und Unabhängigkeit des Parlamentariers bezweckt, so ist die derzeitige Regelung und Praxis nicht zweckmäßig.

Wenn Äußerungen von Parlamentariern nur dann als „in diesem Berufe“ gemacht gelten, wenn sie bei Teilnahme an der Parlamentsdebatte gemacht werden, so verkennt das den umfassenden Strukturwandel in der Politik.

Die parlamentarische Redefreiheit von gestern ist heute für die Parlamentarier nur dann sinnvoll, wenn sie als politische Redefreiheit des Parlamentariers gewährleistet ist. In Ausübung seines Berufes ist er ja nicht nur im Plenum, in den Ausschüssen oder im Gebäude des Parlaments tätig. Auch bei Pressekonferenzen, Gesprächen, Interviews, Vorträgen, Versammlungen, Diskussionsveranstaltungen ist der Parlamentarier in Ausübung seines Berufes tätig, und die Sprechakte, die er setzt, sind „Äußerungen“, die „in diesem Beruf“ gemacht worden sind.

Das Verständnis der parlamentarischen Redefreiheit als politische Redefreiheit des Parlamentariers erscheint mir die einzig sinnvolle, insbesondere für die Oppositionspolitiker. Sie haben kein allgemeines Recht auf Information durch die Regierungsmehrheit. Sie müssen daher eine allgemeine Redefreiheit haben. Ansonsten können insbesondere die Parlamentarier der Opposition ihr Mandat nie in voller Unbefangenheit ausüben.

Die außerberufliche Immunität ist überholt, die beruf liehe gehört überholt. Sie soll modernisiert, die außerberufliche annulliert werden. Renoviert werden muß sie so oder so.

Der Autor ist Dritter Präsident des Wiener Landtages.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung