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Akte wandert hin und her

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Verlangen die Behörden bei ihren Auslieferungsbegehren von den Immunitätsausschüssen der Parlamente eigentlich nicht etwas, was diese gar nicht entscheiden können?

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Verlangen die Behörden bei ihren Auslieferungsbegehren von den Immunitätsausschüssen der Parlamente eigentlich nicht etwas, was diese gar nicht entscheiden können?

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Die außerberufliche Immunität schützt den Abgeordneten vor behördlicher Verfolgung wegen strafbarer Handlungen, die nicht vom Schutz der beruflichen Immunität erfaßt sind. Zur beruflichen gehören die parlamentarischen Tätigkeiten, das Verhalten bei Abstimmungen, mündliche und schriftliche Äußerungen im Parlament oder in seinen Ausschüssen.

Aus der Geschichte wissen wir, daß die außerberufliche Immunität die Parlamentarier vor funktionsbehindernden Ubergriffen der Regierung schützen sollte. Dieser Schutz sollte verhindern, daß oppositionelle Abgeordnete unter dem Vorwand irgendeines strafbaren Verhaltens von der Exekutive festgehalten oder festgenommen und vom Parlament ferngehalten werden. Das Schutzbedürfnis ging auf Erfahrungen der Stände im Kampf mit dem Monarchen zurück.

Obwohl sich die staatsrechtlichen Verhältnisse und politischen Konstellationen völlig verändert haben, blieb die außerberufliche Immunität, wenn auch modifiziert und umstritten, erhalten.

Parlamentsmitglieder dürfen heute wegen einer strafbaren Handlung — den Fall der Ergreifung auf frischer Tat bei VerÜbung eines Verbrechens ausgenommen — nur mit Zustimmung des Parlaments verhaftet werden. Desgleichen bedürfen Hausdurchsuchungen bei ihnen der Zustimmung des Parlaments.

Ansonsten dürfen Parlamentsmitglieder ohne Zustimmung des Parlaments wegen einer strafbaren Handlung nur dann behördlich verfolgt werden, wenn diese offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des betreffenden Abgeordneten steht.

Die verfolgende Behörde hat jedoch eine Entscheidung des Parlaments über das Vorliegen eines solchen Zusammenhanges einzuholen, wenn dies der betreffende Abgeordnete oder ein Drittel der Mitglieder des mit diesen Angelegenheiten betrauten ständigen Ausschusses verlangt. Im Falle eines solchen Verlangens hat jede behördliche Verfolgungshandlung sofort zu unterbleiben oder ist eine solche abzubrechen. So bestimmen Artikel 57 Absatz 3 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) und die Landesverfassungen.

In der Praxis richten verfolgende Behörden — um ein Beispiel zu nehmen — etwa an das Präsidium des Wiener Landtages die „Anfrage gemäß Art. 57 Abs. 3 B-VG betreffend den Abgeordneten zum Wiener Landtag A. W." und fragen, „ob im Sinne des Art 57 Abs. 3 B-VG... eine Entscheidung des Wiener Landtages erfolgt, nach welcher die Verfolgung des Beschuldigten ... zu unterbleiben hat oder abzubrechen ist".

Dieser Anfrage an das Präsidium des Landtages sind regelmäßig die Gerichtsakten angeschlossen. Mehr macht die verfolgende Behörde nicht.

Das ist merkwürdig. Denn der Landtag darf auf Grund dieser Anfrage gar nicht entscheiden. Eine Entscheidung über den Zusammenhang der strafbaren Handlung mit der Tätigkeit als Abgeordneter ist ja nur dann vom Landtag einzuholen, wenn es der betreffende Abgeordnete oder ein Drittel der Mitglieder des Immunitätsausschusses verlangt.

Dabei wird außer Streit gestellt, daß die Frage des Zusammenhanges der vorgeworfenen strafbaren Handlung mit der politischen Tätigkeit sowie der allfälligen Offensichtlichkeit des Fehlens eines solchen Zusammenhanges von der zur Verfolgung berufenen Behörde in jedem Fall als „Vorfrage" zu beurteilen ist. Die zur Verfolgung^ berufene Behörde hat keine Möglichkeit, von sich aus eine Entscheidung des Parlaments zu erwirken, ob ein derartiger Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des betreffenden Abgeordneten vorliegt oder nicht.

Obwohl das den verfolgenden Behörden bekannt ist, fragen sie doch an, ob eine Entscheidung des Landtages darüber erfolgt, ob die strafbare Handlung, wegen der die behördliche Verfolgung des Abgeordneten stattfinden soll, in einem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des Abgeordneten steht.

Obwohl die Behörde von sich aus den Zusammenhang beurteilen und je nach dem Ergebnis die strafbare Handlung verfolgen oder ein Auslieferungsbegehren stellen müßte (vgl. Art. 57 Abs. 4 B-VG bzw. Paragraph 130 Abs. 5 der Wiener Stadtverfassung), wird gewissermaßen gleich der ganze Akt abgetreten. Die bloße Fragestellung und das tatsächliche Verschicken der Akten allein kann man wohl nicht als Beurteilung der Vorfrage deuten.

Wenn weder ein Drittel der Mitglieder des Ausschusses noch der betreffende Abgeordnete selbst das Verlangen stellt, daß der Landtag über das Vorliegen oder Nichtvorliegen des Zusammenhanges zwischen strafbarer Handlung und politischer Tätigkeit als Abgeordneter entscheidet, werden die Akten einfach wieder zurückgeschickt.

Das Präsidium des Wiener Landtages teilt außerdem — um bei dem Beispiel zu bleiben — immer wieder den verfolgenden Behörden mit, daß sich der Landtag mit der Entscheidung, ob ein Zusammenhang zwischen strafbarer Handlung und Abgeordnetentätigkeit besteht, gar nicht befassen darf. Die verfolgende Behörde hätte eine solche Frage selbst zu beurteilen.

Auf Grund der Verfassungsrechtslage muß also die verfolgende Behörde die Frage des Zusammenhanges mit der politischen Tätigkeit sowie der allfälligen Offensichtlichkeit des Fehlens eines solchen Zusammenhanges in jedem Fall als Vorfrage selbst beurteilen. Das bedeutet Arbeit für die Behörde.

Es kann auch Arbeit ohne entsprechende Konsequenzen bedeuten. Denn für den Fall, daß doch ein Drittel der Mitglieder des Immunitätsausschusses oder der betreffende Abgeordnete selbst das Verlangen stellt, daß der Landtag über das Vorliegen oder Nichtvorliegen des Zusammenhanges zwischen strafbarer Handlung und politischer Tätigkeit als Abgeordneter entscheidet, muß jede behördliche Verfolgungshandlung sofort unterbleiben oder abgebrochen werden.

Als weitere Folge entsteht die Pflicht der verfolgenden Behörde, eine Entscheidung des Parlaments über das Vorliegen eines Zusammenhanges mit der politischen Tätigkeit des betreffenden Abgeordneten einzuholen.

Es stellen sich also die Fragen: Stellen die verfolgenden Behörden mit der Frage an das Parlament eigentlich die Frage, ob der betreffende Abgeordnete oder ein Drittel des Immunitätsausschusses die Entscheidung des Parlaments verlangt? Oder deuten die verfolgenden Behörden ihre Fragestellung an das Parlament und das Verschicken von Akten rechtlich als Beurteilung der Vorfrage doch in dem Sinne, daß die inkriminierte Handlung in einem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des betreffenden Abgeordneten steht?

Der Autor ist Universitätsprofessor für Rechtslehre, Prärektor der Wiener Universität für Bodenkultur und Abgeordneter zum Wiener Landtag.

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