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Kein Auflösungszwang

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Immer wieder liest man in verschiedenen Zeitungen im Zusammenhang mit den Mehrheitsgruppierungen, die sich durch die derzeitigen Mandatsverhältnisse der drei Parteien im Parlament ergeben, Sätze ungefähr im folgenden Sinne: „Wenn eine rein sozialistische Minderheitsregierung gebildet würde, so könnte sie bei der Abstimmung über eine ihrer Gesetzesvorlagen durch die vereinigten Gegenstimmen der ÖVP und FPÖ* jederzeit gestürzt werden; ein solcher ,Mißtrauensbeschluß' des Nationalrates gegen die Regierung würde den Bundespräsidenten zwingen, die Regierung zu entlassen und den Nationalrat aufzulösen, so daß sofort wieder Neuwahlen ausgeschrieben werden müßten. Neuwahlen nach so kurzer Zeit würde das Volk aber nicht verstehen.“ Hier scheint einige Begriffsverwirrung zu bestehen, die geradezu erschreckend die Verkennung sowohl der Stellung des Nationalrates als auch der dem Geist der Verfassung entsprechenden Aufgaben des Bundespräsidenten aufzeigt.

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Immer wieder liest man in verschiedenen Zeitungen im Zusammenhang mit den Mehrheitsgruppierungen, die sich durch die derzeitigen Mandatsverhältnisse der drei Parteien im Parlament ergeben, Sätze ungefähr im folgenden Sinne: „Wenn eine rein sozialistische Minderheitsregierung gebildet würde, so könnte sie bei der Abstimmung über eine ihrer Gesetzesvorlagen durch die vereinigten Gegenstimmen der ÖVP und FPÖ* jederzeit gestürzt werden; ein solcher ,Mißtrauensbeschluß' des Nationalrates gegen die Regierung würde den Bundespräsidenten zwingen, die Regierung zu entlassen und den Nationalrat aufzulösen, so daß sofort wieder Neuwahlen ausgeschrieben werden müßten. Neuwahlen nach so kurzer Zeit würde das Volk aber nicht verstehen.“ Hier scheint einige Begriffsverwirrung zu bestehen, die geradezu erschreckend die Verkennung sowohl der Stellung des Nationalrates als auch der dem Geist der Verfassung entsprechenden Aufgaben des Bundespräsidenten aufzeigt.

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Man muß daher doch einmal klar und deutlich sagen: Es steht zunächst nirgends in der Bundesverfassung, daß die Ablehnung einer von einer Minderheitsregierung eingebrachten Gesetzesvorlage, also eine „Abstimmungsniederlage“ einen „Mißtrauensbeschluß“ gegen die Regierung darstellt und daher den Bundespräsidenten zur Enthebung der Regierung zwingt. Anders ist es bei dem sogenannten „Versagen des Vertrauens“, das so gern als „Mißtrauensbeschluß“ bezeichnet wird. Hier sagt der Artikel 74 (1) des Bundesverfassungsgesetzes wortwörtlich: „Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Minister des Amtes zu entheben.“

Der Vertrauensentzug ist also — beinahe könnte man sagen — ein feierlicher Akt. Es wird nicht nur „Ausdrücklichkeit“, also Wörtlichkeit, sondern in einer weiteren Be-stimmiung des Artikels 74 wohl nur eine einfache Mehrheit aber ein erhöhtes „Quorum“ (Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder) gefordert. Außerdem gibt es dabei eine sogenannte „cooling“-Frist, eine Abkühlungsfrist. Wenn es nämlich ein Fünftel der anwesenden Mitglieder verlangt, so ist die Abstimmung über den Vertrauensentzug auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen. Die Gemüter sollen sich eben abkühlen, so daß überstürzte Beschlüsse in einer so folgenschweren Angelegenheit vermieden werden.

Hier muß also der Bundespräsident die Regierung oder den einzelnen Minister entheben.

Keinesfalls aber — und das kann nicht deutlich genug gesagt werden — ist der Bundespräsident in diesen beiden Fällen, nämlich bloße Abstimmungsniederlage oder Vertrauensentzug, verfassungsmäßig gezwungen und auch zunächst nicht veranlaßt, den Nationalrat aufzulösen und Neuwahlen herbeizuführen.

Die Minister — nicht das Parlament

Hierzulande scheinen die Vorstellungen über die Funktion des Parlamentes förmlich auf den Kopf gestellt zu sein — eine Folge der Entwertung des Parlamentes durch die sterilen Formen früherer Koalitionen, bei manchen Massenmedien vielleicht aber auch eine Folge der konsequent entweder offen oder unterschwellig betriebenen Eintrübung des Ansehens des Parlamentes und der Parlamentspolitnker. In einer Normaldemokratie kommen Regierungen und stürzen über das Parlament, aber dieses selbst bleibt. Bei uns müßte jedesmal das Parlament über die Regierung stürzen! Natürlich besteht nach dem Wortlaut der Verfassung die Möglichkeit, daß der Kanzler einer Regierung, die eine Abstimmungsniederlage erlitten hat, und die deshalb zurücktreten will — ja sogar der Kanzler, dem das Vertrauen versagt wurde, als letzten Akt beim Bundespräsidenten gemäß Artikel 67 den Antrag stellt, den Nationalrat aufzulösen. Kann der Bundespräsident diesem Antrag entsprechen? Nach der Verfassung kann er es ohne Zweifel. Die sehr heikle Frage, die sich da erhebt, ist jedoch die, ob er es aus dem verfassungsmäßigen Geiste seines hohen Amtes auch immer tun darf. Auf die gegebenen österreichischen Verhältnisse übertragen, hieße das nichts anderes als daß der Kanzler einer SPÖ-Minderheitsregierung gegen die Parlamentsmehrheit, die den euphorischen Höhenflug eines sozialistischen Umbaues der Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung durch eine Abstimmungsniederlage oder gar durch einen Vertrauensentzug in etwa gestoppt hätte, gleichsam eine Strafsanktion (mit entsprechender propagandistischer Wirkung auf die Wähler) beantragt und daß der Bundespräsident dieser Strafsanktion gegen eine Parlamentsmehrheit, die dem Kanzler und „seiner“ Partei eine Niederlage bereitet hat, ohne weiteres nachgeben würde.

Die Funktion des Bundespräsidenten

Um die oben gestellte, heikle Frage zu beantworten, muß das Amt des Bundespräsidenten als Ganzes gesehen werden. Und als solches hat es eine echte „Balancefunktion“, eine Ausgleichsfunktion mit zweifellos monarchischen Elementen. Es ist ein hohes, ja, das höchste politische Amt in unserer Republik — aber es ist kein parteipolitisches Amt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß es in einem solchen Fall einer gescheiterten Minderheitsregierung die die Funktion des Bundespräsidenten wäre, die zweitstärkste Partei aufzufordern, ihrerseits eine Mehrheit zusammenzusuchen, die sich aus der parteipolitischen Konstellation ergibt, oder aber, daß der Bundespräsident ein Kabinett aus Fachleuten bildet (sogenanntes Beamtenkabinett).

Erst wenn solche Versuche neuerdings mißlingen, wenn durch Obstruktion oder außerparlamentarischen Druck das parlamentarische Leben und damit die Demokratie bedroht würde — also im Zustand einer schweren Krise — wäre es an der Zeit, daß der Bundespräsident eine Auflösung des Nationalrates ins Auge faßt und seine politische Macht in die Waagschale wirft. Im Licht einer solchen Auffassung gesehen, zeigt die Verfassungsbestimmung, daß der Nationalrat auch durch den Bundespräsidenten aufgelöst werden kann, erst ihren tiefen Sinn; es ist eine Auffanglinie der Demokratie, um in gänzlich verfahrenen Situationen das Parlament und damit auch die Demokratie wieder flott zu machen.

Nie ist es aber als Mittel gedacht, um irgend etiner bestimmten Partei den besten Zeitpunkt zu einem Absprung in Neuwahlen zu sichern.

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