Die Politik des Einsiedlerkrebses

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In der laufenden Diskussion tauchte die Minderheitsregierung als ernstzunehmende Regierungsvariante auf. Der Autor beschreibt die Möglichkeiten dieser Regierungsform als nicht wirklich schlecht.

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In der laufenden Diskussion tauchte die Minderheitsregierung als ernstzunehmende Regierungsvariante auf. Der Autor beschreibt die Möglichkeiten dieser Regierungsform als nicht wirklich schlecht.

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Die Minderheitsregierung ist ein politischer Akt des Bund-espräsidenten. So ernannte Bundespräsident Wilhelm Miklas vor 69 Jahren die aus Christlichsozialen und Heimwehr bestehende Minderheitsregierung von Bundeskanzler Carl Vaugoin (1930). Diese Regierung schlug dem Bundespräsidenten vor, das Parlament aufzulösen und schrieb verfassungsgemäß Neuwahlen aus. Die Wahl brachte aber nicht die erhoffte Mehrheit. Somit war die Premiere der präsidialen Parlamentsauflösung gleichzeitig ihre Derniere. Und die Regierung, die sich nicht dem Nationalrat, sondern - durch die vorgeschlagenen Wahlen - den Nationalrat der Volkswahl zur Entscheidung gestellt hatte, trat zurück. Seit damals hat das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten aufgehört, Teil der politischen Verfassung zu sein.

Die nächste Minderheitsregierung wurde von Bundespräsident Franz Jonas ernannt. Alle Voraussagen, es werde zu einer großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP kommen, wurden durch die Realität widerlegt. Jonas beauftragte zunächst zwar den Chef der mandatsstärksten Partei SPÖ, Bruno Kreisky, mit der Regierungsbildung auf Grundlage einer großen Koalition. Nachdem aber sieben Wochen ohne Ergebnis verhandelt wurden, beauftragte der Bundespräsident Kreisky neuerlich, eine Bundesregierung zu bilden. Diesmal auf einer anderen Grundlage. Kreisky schlug eine Minderheitsregierung der SPÖ vor: die Regierung Kreisky I (1970/71).

Zahlt sich aus!

Grundsätzlich ist zu sagen, daß eine Minderheitsregierung und die dazu gehörenden Bundesminister dieselben Rechte und Pflichten haben, wie eine Regierung, welche über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt. Die Minderheitsregierung ist also vor allem Träger der initiativen Gewalt. Allein im Bundes-Verfassungsgesetz findet man über sechzig Zuständigkeiten der Regierung. Dazu kommen Zuständigkeiten aufgrund anderer Rechtsnormen und die nahezu unvorstellbar große Zahl von Zuständigkeiten der Bundesminister, die im einzelnen noch niemand gezählt hat, und die in einem großen Verwaltungsstaat wichtige Staatspersonal-, Staatsauftrags- und Staatssubventionspolitik.

Insofern zahlt sich im wahrsten Sinne des Wortes eine Minderheitsregierung aus. Freilich muß sie zunächst nach der Technik des Einsiedlerkrebses die leeren Positionen nach dem letzten Bundesministeriengesetz beziehen und wäre in weiterer Folge diesbezüglich von jener Mehrheit im Parlament abhängig, die sich als Ministeriengesetzgeber formiert. Zahl, Wirkungsbereich und Einrichtung der Bundesministerien werden durch Bundesgesetz bestimmt.

Ist die Existenz einer Minderheitsregierung durch einen Toleranzpakt mit anderen im Nationalrat vertretenen Parteien gesichert, ist die Funktionsfähigkeit dieser Regierung groß. Sie hat weder eine Ministeranklage noch ein Mißtrauensvotum zu befürchten. Auch eine etwaige Abstimmungsniederlage im Wege der Gesetzgebung hat keinen Rücktritt und keine Enthebung zur Rechtsfolge.

Im übrigen ist eine Minderheitsregierung wie jede Regierung hinsichtlich Information, Medien, Expertise, Personal und Kapital dem Parlament weit überlegen. Trotzdem ist das Parlament in allen seinen Funktionen bei einer Minderheitsregierung aufgewertet. Schon jetzt sind Gesetzgebung und Kontrolle von der Regierung selbständiger geworden. Bei einer Minderheitsregierung würde diese Aufwertung des Parlaments - die freilich eine Scheinaufwertung wäre - noch größer sein. Interpellations-, Resolutions- und Enqueterecht, aber auch die Genehmigung von Staatsverträgen, die Budgetbewilligung und das Damoklesschwert der Geltendmachung der Ministerverantwortlichkeit machen gerade im Falle einer Minderheitsregierung die Kontrollfunktion des Parlamentes besonders wirkungsvoll.

Die Vormacht der Regierung in der Außen- und Öffentlichkeitspolitik würde aber bestehen bleiben. Dazu käme eine Monopolstellung im Bereich der EU-Organe, die man sich erst in ihren Auswirkungen ausmalen muß. Denn seit dem EU-Beitritt sind die Bundesminister potenzierte Organe geworden. Nicht nur in Österreich, sondern auch in den Organen der EU regieren sie mit. Im Gegensatz zur Opposition und zum Parlament kann somit die Regierung national und supranational gestalten und steht im Scheinwerferlicht der Medien. Aber der politische Wettbewerb und damit verbundene Ambitionen, Eifersucht und Neid verhindern wohl auf längere Sicht die schöne Minderheitsregierung.

Der Autor ist Professor an der Universität für Bodenkultur in Wien.

BUCHTIP Demokratie auf Österreichisch. Die erstarrte Republik. Von Manfried Welan, Czernin Verlag Wien 1999, 96 Seiten, kt., ös 158,- e 11,48

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