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Stunde des Bundespräsidenten ?

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Die Diskussionen über die Frage, welche Regierungsform Österreich nach der kommenden Nationalratswahl haben solle, lassen erkennen, daß die bedeutende Rolle des Bundespräsidenten bei der Entscheidung dieser Frage nicht gesehen wird. Die Mehrheit hält den Bundespräsidenten für einen politisch bedeutungslosen Mann, dessen Aufgabe es ist, Straßen und Messen zu eröffnen, Staatsbesuche im In- und Ausland zu absolvieren und an politischen Feiertagen feierliche Ansprachen zu halten. Dieses Bild von der Rolle und Stellung des österreichischen Bundespräsidenten ist jedoch falsch. Der Präsident hat Rechte, die ihn zu einer politischen Zentralfigur machen. Von besonderer Bedeutung ist das Recht, den Bundeskanzler und die übrigen Mitglieder der Bundesregierung zu ernennen. Besonders bedeutungsvoll dabei ist, daß der Bundespräsident zur Ernennung des Bundeskanzlers keines Vorschlags bedarf; er handelt hier also rechtlich frei.

Dieses Recht des Bundespräsidenten gewinnt insbesondere dann politische Bedeutung, wenn die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat und die Beziehungen der im Parlament vertretenen Parteien zueinander strittig und unklar sind. So hat im Jahre 1970 der damalige Bundespräsident Jonas dem jetzigen Bundeskanzler Kreisky die Möglichkeit gegeben, eine Minderheitsregierung zu bilden und hat damit eine politische Weichenstellung vorgenommen, die von weittragender Wirkung gewesen ist.

Nach dem 5. Oktober wird sich eine ähnliche Konstellation ergeben, und da wird die Frage interessant, wie der jetzige Bundespräsident Kirchschläger da wohl entscheiden mag.

Rudolf Kirchschläger hat in letzter Zeit Signale gegeben, die gewisse Präferenzen erkennen lassen. So hat er etwa in seiner Rede auf der offiziellen Trauerfeier für Karl Schleinzer in Klagenfurt am 24. Juli den Satz geprägt: „Eine verantwortungsvolle parlamentarische Kontrolle zählt zu den wesentlichen Bestandteilen einer parlamentarischen Demokratie“. Er hat sich also für das englische Demokratiemodell ausgesprochen, das eine große Oppositionspartei voraussetzt, und hat sich damit gegen die Konzentrationsregierung erklärt.

Zur Eröffnung der Internationalen österreichischen Landwirtschaftsmesse in Ried am 30. August dieses Jahres hielt der Bundespräsident eine Ansprache, bei der er sich für die wirtschaftliche Zusammenarbeit aussprach. Der Bundespräsident ist also offenbar für die Zusammenarbeit der Sozialpartner, aber gegen die Zusammenarbeit der großen Parteien in einer Konzentrationsregierung, und wohl auch gegen die große Koalition.-

Nun zieht die ÖVP aber mit der Forderung nach breitester Zusammenarbeit auch auf Regierungsebene in den Wahlkampf. Diese Forderung hat innerhalb der österreichischen Bevölkerung viel Sympathien gefunden, und es ist durchaus möglich, daß die ÖVP bei der Nationalratswahl arn 5. Oktober die relative Mehrheit erobert.

Ein solches Wahlergebnis müßte man dann aber in dem Sinne interpretieren, daß das österreichische Volk mehrheitlich die Zusammenarbeit auch auf Regierungsebene will. Zwischen dem Willen des Volkes und den Vorstellungen des Bundespräsidenten über das optimale Demokratiemodell würde sich also ein Widerspruch ergeben.

Wie wird der Bundespräsident angesichts dieses Dilemmas entscheiden? Kann er seinen eigenen Wertvorstellungen folgen oder muß er sich dem Willen des Volkes unterwerfen? Nach dem Text der Bundesverfassung entscheidet der Bundespräsident in diesem Fall frei; gemäß dem Sinn dieser Verfassung ist er jedoch an den Volkswillen gebunden. Schließlich lautet der 1. Artikel unserer Bundesverfassung wie folgt: „ÖSTERREICH IST EINE DEMOKRATISCHE REPUBLIK. IHR RECHT GEHT VOM VOLKE AUS.“

Dieser Satz ist auch für den Bundespräsidenten maßgebend. Er wäre daher gehalten, den erkennbaren Willen des österreichischen Volkes seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

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