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Die Macht ausgleichen!

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Die — ungeschriebene — britische Verfassung brachte den Begriff des Gleichgewichts der Macht — the balance of power — in das politische Denken Europas. Großbritannien kennt eine sehr genaue Begrenzung der einzelnen Machtsphären: Die Macht des Königs wird durch die Existenz des Parlaments beschränkt. Im Parlament selbst wieder steht der Macht des Unterhauses diejenige des Oberhauses entgegen. Die Macht der Regierung wird durch das Vorhandensein „Ihrer Majestät allergetreueste Opposition” eingeengt. So ist es in Großbritannien unmöglich, daß eine der politischen Institutionen von einem Machtrausch befallen wird, der das Leben des Landes und der Menschen zerstört. Auch die Schwefe kennt ein sehr ausgewogenes System der Balance der Macht: Das Zentralparlament wird durch die Länderkammer — den Ständerat, in dem jeder Kanton, gleichgültig, welche Größe er besitzet, mit gleich vielen Stimmen vertreten ist — in seiner Macht beschränkt. Jede der beiden Kammern hat das Recht, Gesetzesanträge zu stellen und diese Anträge erlangen nur Gesetzeskraft, wenn die andere Kammer zustimmt.

Die österreichische Verfassung dagegen kennt fast kaum ein verbrieftes Gleichgewicht der einzelnen politischen Mächte. Die Rechte des Bundesrates, der Zweiten Kammer, gegenüber dem Nationalrat, der Ersten Kammer, sind geradezu kümmerlich. Ihre Proteste gegen Beschlüsse des Nationalrates, die außerdem noch nur auf einen ganz bestimmten Kreis beschränkt sind, haben fast nur symbolischen Charakter. Die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung wären zwar recht beachtlich, werden aber paralysiert durch die Tatsache, diaß sich das österreichische Parlament, seitdem es existiert, immer nur als einen „Rat” und nie als einen „Tag” betrachtete. Während alle Parlamente der Welt ständig versuchten, ihre Rechte zu erweitern, hat sich das österreichische Parlament vielfach auf eine beratende Tätigkeit beschränkt oder sich sogar ganz ausgeschaltet: In der Monarchie durch die Obstruktion der Reichsratsabgeordneten, die es der Regierung ermöglichte, mit dem Notverordnungsparagraphen zu regieren. In der Ersten Republik durch den Rücktritt der drei Präsidenten, wodurch sich das Parlament vollständig ausschaltete. In der Zweiten Republik durch das System der Großen Koalitionen, in denen das Parlament zwar offiziell weiterexistierte, aber doch nur ein Scheindasein lebte. Denn es spielte nur noch die Rolle eines Notars, der das Recht besaß, beschlossene Gesetze zu legalisieren. Das Prinzip der „balance of power” garantieren in Österreich die Obersten Gerichtshöfe, deren Entscheidungen ganz Österreich unterworfen ist. Aber diese Gerichtshöfe treten doch immer wieder nur in besonderen Fällen in Aktion.

Neben den Obersten Gerichtshöfen ist der andere Garant für die Einhaltung des Gleichgewichts der Macht im ständigen politischen Leben Österreichs der Bundespräsident. Denn er besitzt viel mehr Rechte als die Oberhäupter anderer Staaten und stellt eine Art Kaiser Franz Joseph auf die Dauer von jeweils sechs Jahren dar; er be sitzt die Rechte, einen Machtrausch der Regierung oder des Parlaments zu paralysieren und auch mögliche alltägliche kleine Verärgerungen des laufenden politischen Lebens abzubiegen. Im letzten kann aber das System des Gleichgewichts durch den Bundespräsideniten, bei allem persönlichen guten Willen, nur dann garantiert sein, wenn der Bundespräsident einem anderen politischen Lager entstammt als der jeweilige Chef der Regierung. Die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1933 und dies Februar 1934, die wie ein Trauma durch Jahrzehnte das politische Leben Österreichs belasteten, wären niemals eingetreten, wenn in dieser Zeit Bundeskanzler und Bundespräsident verschiedenen politischen Lagern angehört hätten. Sowohl die Selbstauflösung des Parlaments im Frühjahr 1933 wäre mit legalen Mitteln gelöst worden, wie auch das furchtbare blutige Aufeinanderprallen der beiden politischen Lager vermieden worden, wenn es damals ein Gleichgewicht der Macht gegeben hätte.

Das österreichische Volk hat aus diesen schrecklichen Ereignissen gelernt. Es wählte nach 1950 jeweils jenen Kandidaten zum Bundespräsidenten, detr aus einem anderen Lager kam als jenem, dem der Bundeskanzler entstammte. Es ging bei allen diesen Wahlen eigentlich nie darum, ob diese oder jene Persönlichkeit Bundespräsident würde. Alle Männer, die von den einzelnen Parteien für das Amt des Staatsoberhaupts nominiert wurden, waren ganz ausgezeichnete und integere Personen. Persönlich war jeder von ihnen geeignet, das Amt des Bundespräsidenten auszuüben. Aber das österreichische Volk wählte in seinem gesunden Instinkt jenen, der ihm das System des Gleichgewichts der Macht zu garantieren schien. So war es selbstverständlich, daß Kandidaten, die aus der linken Reichshälfte kamen, zum Staatsoberhaupt gewählt wurden, solange die Chefs der Regierung aus der rechten Reichshälfte kamen.

Aber nun steht an der Spitze der Regierung ein Kanzler, der aus der linken Reichshälfte kommt. Und alle Beirechnungen, daß seine Regie- rungszedt zeitlich beschränkt sei, dürften illusorisch sein. Um so wichtiger ist es also, daß bei der kommenden Bundespräsidentenwahl jenem Kandidaten die Stimme gegeben wird, der nicht aus dem gleichen Lager wie der Chef der Regierung kommt. Es klingt vielleicht etwas absurd, wenn hier behauptet wird, daß auch alle jene, die nicht dem Lager des Kandidaten der rechten Reichshälfte angehören, ihm dennoch ihre Stimme geben müßten, nur um in Österreich auch weiterhin die so segensreiche Balance der Macht zu garantieren. Dies gilt nicht nur für die Mitglieder der Volkspartei, sondern auch für Sozialisten und eitliche.

Beide Kandidaten sind auch diesmal hochachtbare, integere und in der Politik erfahrene Männer. Jeder von ihnen hätte persönlich die Fähigkeit, Staatsoberhaupt zu sein. Aber es geht eben um mehr, als nur um die Wahl einer bestimmten Person. Es geht darum, daß ein Prinzip, das sich für die österreichische Politik als segensreich erwiesen hat, auch weiterhin bestehen bleibe.

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