6965632-1985_13_01.jpg
Digital In Arbeit

Kraft zur Evolution

Werbung
Werbung
Werbung

Das von einigen in Diskussion gebrachte „Schweizer Modell” unterscheidet sich wohltuend von früheren Vorschlägen einer Konzentrationsregierung.

Die hierzulande immer wieder anzutreffende Oberflächlichkeit läßt nämlich übersehen, daß das in Bern praktizierte System keine Regierungsform darstellt, die in der Verfassung als Konzentrationsregierung festgeschrieben ist, sondern auf freiweilliger Basis beruht und dazu noch eine Formel für den ethnischen Proporz der Deutschschweizer, der „Suisse Romande” und der Italiener enthält. Die Freiwilligkeit ist dennoch der wesentliche Ansatz dieser Diskussion.

Was die Konzentrationsregierung im gegenwärtigen Zeitpunkt bei vielen verdächtig macht, ist der Eindruck, daß eine Oppositionspartei durch den Zwang der Verfassung in die Regierung kommen möchte — worauf auch die Sozialisten eiligst hingewiesen haben, um sich damit eine ernste Diskussion der konkreten Vorschläge zu ersparen.

Das „Schweizer Modell” hat aber den Vorteil, daß es eine Haltung verlangt, die offensichtlich in Österreich gegenwärtig schwer zu finden ist: nämlich die Bereitschaft, ein gemeinsames Programm zu entwickeln und vor allem Persönlichkeiten in der Politik zu haben, die miteinander „können”.

Ein neuer österreichischer Grundkonsens, der durch die anstehenden Fragen, wie Strukturkrise der Wirtschaft, Jugendarbeitslosigkeit, Bildungsprobleme, außenpolitische Position unseres Landes und einiges mehr schließlich verlangt ist, wird nur aus Freiwilligkeit zustande kommen können.

Vielleicht kann man auch aus der Zwentendorf-Diskussion die Lehre ziehen, daß das übliche Geschrei um die staatspolitische Haltung anderer Parteien gar nicht sehr glaubwürdig ist, wenn man selber nicht dauernd die Bereitschaft hat, grundsätzlich Übereinstimmung zu suchen.

Wir leben im fatalen Erbe der Kreisky-Ära, eben diesen Konsens in wichtigen Bereichen durch den Spieltrieb des Langzeitbundeskanzlers verloren zu haben. Vielleicht bescheren das 40. Jahr der Zweiten Republik und der 30. Jahrestag des Staatsvertrages auch der größeren Regierungspartei mehr Nachdenklichkeit.

Einen weiteren Gesichtspunkt aber enthält das „Schweizer Modell”, das man vor allem jenen aufzeigen muß, die an die Annehmlichkeit einer breiten Regierungsmehrheit im Parlament denken. Die Schweiz kennt eine starke Entwicklung der direkten Demokratie und der Mitwirkungsrechte der Bürger sowie ein politisches Gleichgewicht der Kräfte durch einen starken Föderalismus.

Hier muß man auch weiterdiskutieren: Ist jetzt schon die Rollenverteilung zwischen Regierung und Parlament mehr als erneuerungsbedürftig, so sollte dann auch darüber nachgedacht werden, ob der Bürger nicht jenen Teil der repräsentativen Demokratie stärker übernehmen muß, der in der letzten Zeit zu Mißstimmungen geführt hat, nämlich die Kontrolle der Verwaltung.

Die Mitwirkungsrechte der Bürger an Verwaltungsentscheidungen sind minimal und die Vorstellungen noch aus dem vergangenen Jahrhundert.

Die technische Entwicklung, die Großräumigkeit und Langfristigkeit der Entscheidungen hat aber dazu geführt, daß sich der Bürger übergangen fühlt und die Durch-schaubarkeit für ihn in vielen Dingen nicht gegeben ist.

Damit aber sind wir möglicherweise wirklich an der Schwelle zur Dritten Republik. Die österreichische Bundesverfassung ist kein junges Mädchen mehr, sie ist eine Festschreibung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der zwanziger Jahre, während sich die Welt halt sehr weiterentwickelt hat.

Mir ist schon klar, daß Umschreibungen von Verfassungen in Zeiten der politischen Kontinuität ungeheuren Schwierigkeiten begegnen. Gerade aber die notwendige Findung eines neuen Grundkonsenses sollte es möglich machen, einige Fragen von Lebenswichtigkeit für unser Land zu behandeln.

Wir haben im 40. Jahr der Zweiten Republik die Frage zu beantworten, ob wir die Kraft zur Evolution haben.

Diese Kraft verlangt nicht Überlegungen, ob wir in der Lage sind, von der Alleinregierung über die Koalitions- zur Konzentrationsregierung zu kommen, sondern ob wir die Kraft haben, vorhandene Probleme zu sehen, Positionen zu beziehen und daraus eine tragfähige Einigung abzuleiten.

Noch sind wir glückhafterweise weit von Katastrophen entfernt, doch die Qualität der politischen Entscheidungen und die Beurteilung der Regierung durch die Regierten geben uns alle den Eindruck, daß Gefahr in Verzug ist.

Dabei darf es keine Gesprächsverweigerung geben, denn unsere Väter, die 1945 die Demokratie, die Republik und Österreich wiedergeschaffen haben, haben es im Gespräch und als Grenzgänger — und zwar über die eigenen Grenzen hinaus — getan.

Der Autor ist Obmann der Wiener Volkspartei und Vizebürgmeister der Bundeshauptstadt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung