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„Das Wort hat der Abgeordnete..

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Der Rücktritt des Seniors der aktiven österreichischen Politiker, Leopold Kun- schak, hat das Augenmerk der Öffentlichkeit nicht nur auf seine allseits verehrte Person, sondern auch auf das von ihm bekleidete Amt gerichtet. Es ist vielleicht eine geschichtliche Fügung, daß sich durch zunächst unvorhergesehene persönliche Veränderungen in den höchsten Staatsfunktionen unser Volk in der Zweiten Republik konkreter und lebendiger als vor 1938 mit der Bedeutung mancher verfassungsrechtlicher Einrichtungen vertraut machen kann: so war es, als im Jahre 1951 zum erstenmal in der Geschichte unseres republikanischen Staatswesens das Staatsoberhaupt, Bundespräsident Dr. Körner, in direkter Wahl vom Volk erkoren wurde und die Bevölkerung daher Gelegenheit hatte, sich mehr als zuvor mit der Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten vertraut zu machen; und so sollte es auch jetzt wieder sein, da die österreichische Volksvertretung einen Wechsel ihres Präsidiums inmitten einer Gesetzgebungsperiode des Nationalrates vorzunehmen hat.

Staatsoberhaupt und Präsident der gesetzgebenden Körperschaft waren nicht immer getrennte Funktionen. Als am 30. Oktober 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung ein Beschluß über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt in dem neu gegründeten, selbständigen Staate Deutschösterreich gefaßt wurde, geschah dies in der Weise, daß die drei Präsidenten der Nationalversammlung zugleich die Präsidenten des Staatsrates waren, so daß sie geradezu als gleichberechtigte Staatsoberhäupter angesehen werden konnten. Später bildete sich eine neue Regelung des gegenseitigen Verhältnisses der drei Präsidenten der Nationalversammlung heraus, und zwar führte jeweils einer den Vorsitz in der Nationalversammlung, einer leitete die Verhandlungen im Staatsrat und einer stand der Staatsregierung .vor, wobei in der Dienstverwendung von Woche zu Woche abgewechselt wurde. Als im März 1919 an Stelle der Provisorischen die Konstituierende Nationalversammlung zusammentrat, unterschied sich die Einrichtung der obersten Staatsfunktionen grundlegend dadurch, daß nur ein Präsident und als seine Stellvertreter ein zweiter und ein dritter Präsident gewählt wurden. Die Funktionen, die üblicherweise den Wirkungskreis eines republikanischen Staatsoberhauptes bilden, wurden zum größten Teil dem Präsidenten der Nationalversammlung übertragen. In den Bundesverfassungsgesetzen vom 14. März 1919 wurde erstmalig die Bestimmung getroffen, daß der Präsident der Nationalversammlung die Republik nach außen vertritt und die Ernennungen und Bestätigungen von Beamten sowie die Verleihung von Amtstiteln vollzieht.

Zwar führte der Präsident der Nationalversammlung nicht auch gleichzeitig den Titel Präsident der Republik, weil er seine Funktionen nur als Organ der Volksvertretungen auszuüben hatte, doch waren ihm faktisch eine Reihe von obersten Vollziehungs- oder Regierungsfunktionen übertragen, die typische Befugnisse des Staatsoberhauptes darstellen.

Erst mit den am 1. Oktober 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung angenommenen Bestimmungen des Bundesverfassungsgesetzes über die Vollziehung des Bundes und über den Bundespräsidenten ging Österreich zu einer anderen verfassungsrechtlichen Konstruktion über: nicht mehr der Vorsitzende der gesetzgebenden Körperschaft sollte gewisse Funktionen eines Staatsoberhauptes ausüben, sondern ein eigener Bundespräsident war zur Bekleidung der Stelle eines Staatsoberhauptes zu wählen. D i e Bundesverfassung vom Jahre 1 9 20 schuf also erst das Amt des Bundespiäsidenlen und damit die Trennung der Funktionen des Staatsoberhauptes von den Funktionen des Präsidenten der Nationalversammlung beziehungsweise des Na- tionalratesl

Aus dieser kurzen historischen Skizze ist zu ersehen, eine wie hohe Bedeutung dem Amt des Präsidenten des Nationalrates in staatsrechtlicher Hinsicht zukommt. In der Rangordnung der obersten staatlichen Funktionäre wird der Präsident des Nationalrates unmittelbar nach dem Bundespräsidenten, vor dem Bundeskanzler und den übrigen Mitgliedern der Regierung angeführt. Da die Ernennung der höheren Staatsbeamten dem Bundespräsidenten obliegt, sieht unsere Verfassung — um jeden Anschein einer Unterordnung unter das oberste Regierungsorgan zu vermeiden — im Artikel 30 vor, daß die Ernennung der Angestellten der Kanzlei des Präsidenten des Nationalrates dem Präsidenten selbst zusteht.

Neben dieser staatsrechtlichen Stellung erhält das Amt des Präsidenten des Nationalrates seine Bedeutung natürlich vor allem durch die Befugnisse, die ihm als Leiter des obersten Organes der Bundesgesetzgebung übertragen sind. Insbesondere steht dem Präsidenten die Oberaufsicht über das Parlamentsgebäude sowie das Zuweisungsrecht über die dem Nationalrat, dem Bundesrat, den Ausschüssen und den Abgeordnetenklubs zur Verfügung zu stellenden Räume zu.

Außer solchen administrativen Befugnissen hat der Präsident weitgehende Rechte und Pflichten als Repräsentant der Volksvertretung: er wacht darüber, daß die Würde und Rechte des Nationalrates gewahrt, die dem Nationalrat obliegenden Aufgaben erfüllt und die Verhandlungen unter Vermeidung jedes unnötigen Aufschubes durchgeführt werden. Er hat das Recht der Eröffnung und Zuteilung aller an den Nationalrat gelangenden Eingaben und ist der Vertreter des Nationalrates in allen Belangen nach außen. Der Präsident handhabt die Geschäftsordnung, eröffnet und schließt die Sitzungen, führt den Vorsitz, leitet die Verhandlungen, erteilt das Wort, stellt die Fragen zur Abstimmung und spricht deren Ergebnis aus. Er ist jederzeit berechtigt, eine Sitzung des Nationalrates zu unterbrechen und auch aufzuheben. Der Präsident kann nach eigenem Ermessen namentliche Abstimmungen anordnen und nach einer längeren Unterbrechung der Sitzungen des Nationalrates die Tagesordnung der nächsten Sitzung bestimmen.

Dem Wesen der Demokratie entspricht es, daß die Leitung der Geschäfte der Volksvertretung keine rein obrigkeitliche ist, sondern daß in wichtigen Belangen der Präsident den Willenskundgebungen einer entsprechenden Anzahl von Abgeordneten stattgeben muß. So hat beispielsweise der Präsident jedenfalls eine namentliche Abstimmung anzuordnen, wenn diese von wenigstens 25 Mitgliedern des Nationalrates begehrt wird, und ebenso können nach Eröffnung einer Sitzung Einwendungen gegen die vom Präsidenten bekanntgegebene Tagesordnung erhoben und Gegenanträge gestellt werden, über welche der Nationalrat entscheidet. Der Geschäftsordnung der österreichischen Volksvertretung sind ferner auch alle Bestimmungen fremd, nach welchen ein Abgeordneter von der Teilnahme an Sitzungen des Hauses oder der Ausschüsse durch den Präsidenten ausgeschlossen oder sogar mit einer Geldbuße belegt werden könnte. Derartige Vollmachten sieht gegenwärtig zum Beispiel die Geschäftsordnung des westdeutschen Bundestages vor, während dem Präsidenten des österreichischen Nationalrates als Sanktionen bei Verletzung der Ordnungsbestimmungen der Ruf „Zur Sache!“, „Zur Ordnung!“ und der Wortentzug zur Verfügung stehen.

Der Bundespräsident als höchstes Organ der Gesetzesvollziehung und der Präsident des Nationalrates als oberster Repräsentant der wichtigsten gesetzgebenden Körperschaft und der Volksvertretung haben zwar verfassungsrechtlich seit 1920 vollkommen getrennte Funktionen; gemeinsam aber ist ihnen beiden, daß sie durch den Willen des Volkes mit ihren Ämtern bekleidet werden und die Ausübung dieser beiden höchsten Staatsfunktionen in ganz besonderer Weise als Dienst am Volke durch die österreichische Verfassung charakterisiert erscheint.

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