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Stiefkind der Verfassung

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„Der große Kummer der kleinen Kammer“ — unter diesem Titel schrieb einmal Willy Lorenz über den Bundesrat, die zweite Kammer des österreichischen Parlaments. Wie klein aber war doch der Kummer, an den damals gedacht wurde, im Verhältnis zu den Problemen, denen sich die Länderkammer nunmehr gegenübersieht!

Das Ergebnis der oberösterreichischen Landtagswahlen hat dazu geführt, daß in einigen Tagen die Zusammensetzung des Bundesrates lauten wird: 27 Mitglieder von der ÖVP und 27 Mitglieder von der SPÖ. Das aber ist die fatalste Zusammensetzung, die es für eine demokratische Körperschaft geben kann, deren Wesen darin besteht, strittige Entscheidungen durch Mehrheitsbildung herbeizuführen. Die Geschäftsordnungen solcher Körperschaften sind nämlich nicht auf Parität, sondern auf Mehrheit abgestellt Kein Wunder, daß der Geschäftsordnung des Bundesrates nun an allen Ecken und Enden Verfahrensbestimmungen für die kommende Situation fehlen.

Spärliche Mitgift

Schon von der Verfassung ist die Länderkammer unseres Parlaments mit einer derart spärlichen Mitgift en Kompetenzen ausgestattet, daß Bie gegenüber dem Nationalrat geradezu als Stiefkind erscheint: Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates werden dem Bundeskanzler übermittelt, der sie sofort dem Bundesrat bekanntgibt; die Kundmachung eines Bundesgesetzes kann nämlich im allgemeinen nur dann erfolgen, wenn der Bundesrat gegen den Beschluß des Nationalrates binnen acht Wochen keinen mit Gründen versehenen Einspruch erhoben hat. Ein Boicher Einspruch ist dem Nationalrat durch Vermittlung des Bundeskanzlers mitzuteilen; wiederholt nun der Nationalrat seinen ursprünglichen Beschluß bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder, so wird sein Gesetzesbeschluß trotz des Einspruchs des Bundesrates rechtskräftig. Der Bundesrat kann also die Gesetzwerdung im allgemeinen nur aufschieben, jedoch nicht verhindern. Gegen einige wichtige Beschlüsse des Nationalrates — zum

Beispiel die Bewilligung des Bundesvoranschlages, die Genehmigung des Rechnungsabschlusses, die Verfügung über Bundesvermögen — kann der Bundesrat überhaupt nicht Einspruch erheben. Im Gegensatz hierzu gibt es nur wenige Gesetze, denen der Bundesrat zugestimmt haben muß, die also nicht durch einen Beharrungsbeschluß des Nationalrates gegen den Willen des Bundesrates in Kraft gesetzt werden können; im wesentlichen sind dies die verfassungsrechtlichen Bestimmungen über den Bundesrat selbst, die nur mit seiner Zustimmung abänderbar sind. Soweit die Rechtslage nach unserer Bundesverfassung.

Zehn Wochen Aufschub

An diesen Kompetenzen des Bundesrates orientieren sich nun die Interessen der beiden großen Parteien unseres Landes: Die ÖVP hat ihre bisherige Mehrheit im Bundesrat dazu eingesetzt, das Wirksamwerden von Gesetzesbeschlüssen des Nationalrates zu beschleunigen, indem nämlich der Bundesrat noch vor Ablauf von acht Wochen ausdrücklich erklärte, gegen welche Beschlüsse er keinen Einspruch erheben wolle. Die SPÖ anderseits kann das neugewonnene Stimmengleichgewicht im Bundesrat nur in die Waagschale werfen, um das Wirksamwerden von Beschlüssen des Nationalrates — wenn sie auf der ÖVP-Mehrheit jenes Hauses beruhen — möglichst hinauszuzögern. Der optimale Erfolg für sie bestünde darin, knapp vor Ablauf der Achtwochenfrist einen Einspruch des Bundesrates herbeizuführen, der durch einen Beharrungsbeschluß des Nationalrates wirkungslos gemacht werden müßte. Da das Verfahren im Nationalrat einige Zeit in Anspruch nimmt — Einbringung der Vorlage durch den Bundeskanzler, Zuweisung an einen Ausschuß, Berichterstattung des Ausschusses an das Plenum und dann erst Debatte und Abstimmung im Nationalrat —, kann auf diese Weise zwischen dem ursprünglichen Gesetzesbeschluß des Nationalrates und seiner Verlautbarung im Bundesgesetzblatt ein Aufschub von etwa zehn Wochen durch die SPÖ erzwungen werden.

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