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„Das Niveau einer Schulstube?“

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Paragraph 7 der Geschäftsordnung des Nationalrates enthält die grundlegenden Bestimmungen über Obliegenheiten und Rechte des Präsidenten: „Der Präsident wacht darüber, daß die Würde und die Rechte des Nationalrates gewahrt, die dem Nationalrat obliegenden Aufgaben erfüllt und die Verhandlungen mit Vermeidung jedes unnötigen Aufschubes durchgeführt werden.“

Die Sozialdemokraten fühlten sich in Österreich — und die historische Entwicklung hat sie dazu auch prädestiniert — immer als die besonderen Wächter und als die besonderen Kenner der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des Parlamentarismus. Das ist auch verständlich, denn es hat lange Zeitabschnitte gegeben, in denen das Parlament der einzige Ort war, wo sie als Oppositionspartei an der demokratischen Willensbildung teilnehmen konnten. Dementsprechend war auch die Wahrung der Würde und der Rechte des Parlamentes immer ihr bevorzugtes Anliegen.

Im Jahre 1968, also schon während der Regierungszeit der Einparteienregierung der ÖVP, erklärte der damalige Zweite Präsident des Nationalrates Dipl.-Ing. Waldbrunner im Vorwort des Kommentarbandes zur Geschäftsordnung von Czerny- Fischer folgendes: „Der Nationalrat hat- in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen… Seine Bedeutung als Gegengewicht zur Regierung, wie es unsere Verfassung vorsieht, ist wesentlich gestiegen."

Auch heute gibt es eine Einparteienregierung. An der von Präsident Waldbrunner im Jahre 1968 geschilderten Situation hat sich in dieser Hinsicht nichts geändert.

„… die Würde und die Rechte…“ Wie wacht der Präsident des Nationalrates, der ein Sozialist ist, und wie wacht die sozialistische Regierungsfraktion heute darüber? Der Nationalratspräsident, fast so wie der Bundespräsident, gelten in der Öffentlichkeit des einstigen Kaäserstaates als „sakrosankt“. Sie werden nur ganz selten kritisiert. Im Falle des Nationalratspräsidenten könnte diese Enthaltsamkeit eines Tages bedenklich werden. Auch Nationalratspräsidenten machen manchmal Fehler. Das historische Beispiel dafür lieferte die Sitzung des Nationalrates vom 4. März 1933, als der damalige Präsident Dr. Renner wegen einer anscheinend heillosen Meinungsverschiedenheit unter den Fraktionen seine Stelle als Präsident unter stürmischem Beifall der sozialdemokratischen Fraktion niederlegte. Nach ihm taten die beiden anderen Präsidenten dasselbe, und der Parlamentarismus in Österreich war damit für lange Zeit zu Ende. Wieviel mehr müßten heute alle darüber wachen, daß nicht kleine Nachlässigkeiten zu Präzedenzfällen werden, die eines Tages gefährlich werden könnten?

als Gegengewicht zur Regierung …" Es war während der vom Bundeskanzler Dr. Kreisky vorgetragenen Regierungserklärung am 27. April 1970. Damals machte Präsident Waldbrunner wegen der dauernden Zwischenrufe der Opposition die Abgeordneten darauf aufmerksam, daß in seiner Kanzlei seitens der Fernsehteilnehmer „dauernd Beschwerden einlaufen, daß die Regierungserklärung durch Gelächter und Unaufmerksamkeit ständig gestört wird“, und dann sagte er: „Das ist ein Parlament, das sich etwas anzuhören hat,

und am Mittwoch ist die Debatte dazu. Dann können Sie darüber reden…"

Diese Äußerungen des Präsidenten bedürfen keines Kommentars. Die Möglichkeit der Einwirkung telephonierender Fernsehteilnehmer auf die Sitzung des Parlamentes muß jedem Anhänger des parlamentarischen Systems ebenso das Gruseln ein jagen wie die Formulierung, daß das Parlament „etwas anzuhören hat“.

„… an Bedeutung gewonnen …Während der Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und FPÖ im vergangenen November wurden Ausschußsitzungen im Parlament von Stunde zu Stunde verschoben, und die Ausschußmitglieder mußten tatenlos Im Parlamentsgebäude herumwar- ten, bis man ihnen mitteilte, welche Beschlüsse zu fassen wären („ … Vermeidung jedes unnötigen Aufschubes…“). Das war die vielgerühmte Aufwertung des Parlamentes durch die Minderheitsregierung.

„Seid friedlich! Es weihnačhtet schon sehr! Hört auf zu streiten!“: Mit diesen Worten griff der Nationalratspräsident einmal in die hitzig gewordene Budgetdebatte ein. Präsident Waldbrunner kreiert eben einen neuen

Stil. Er begibt sich manchmal auf die Ebene der Abgeordneten, und so muß er sich auch auf Erwiderungen gefaßt machen. Er verläßt die gesicherten Bahnen der Geschäftsordnung und gerät damit in das Kreuzfeuer der Kritik. So zum Beispiel, als er dem zu einer Berichtigung zum Wort gemeldeten Klubobmann der ÖVP nicht nach dem nächsten Redner das Wort erteilte, wie dies nach der langjährigen Praxis üblich und auch sinnvoll ist, denn eine sachliche Berichtigung dient dem Interesse der Verhandlungen. Oder als er dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, der laut Verfassung „zur parlamentarischen Vertretung“ dem Bundeskanzler beigegeben ist, auch in Anwesenheit des Bundeskanzlers das Wort erteilte. Solche Handlungen des Präsidenten sind zumindest umstritten.

Mit einer gewissen Sorglosigkeit werden also anscheinend die schwierigen und möglicherweise folgenreichen Probleme des Parlaments gehandhabt. Aber das gehört nur zum Gesamtbild. Denn allein schon die dauernde Existenz einer Minderheitsregierung stellt das System der parlamentarischen Demokratie in Frage, ja sie verhöhnt es geradezu. Die Frage von Mehrheit oder Minderheit, der Sinn demokratischer Wahlen überhaupt, werden dauernd auf den Kopf gestellt Was zählen da noch Festreden und schöne Worte über die Bedeutung und das Ansehen des Parlamentes? Manchmal hat es den Anschein, daß das österreichische Parlament auf das Niveau einer Schuilstube degradiert wird. Es fehlt nur noch die Zuchtrute.

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