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Industrie und Brüderlichkeit

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Die Fronten zwischen Beförwortern und Gegnern unseres Industriesystems scheinen sich zu verhärten. Gespräche über die Grundlagen der Wirtschaft werden schwierig. Matthias Mander, als Autor des Romans „Der Kasuar" international bekannt geworden, versucht eine Brücke zu schlagen.

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Die Fronten zwischen Beförwortern und Gegnern unseres Industriesystems scheinen sich zu verhärten. Gespräche über die Grundlagen der Wirtschaft werden schwierig. Matthias Mander, als Autor des Romans „Der Kasuar" international bekannt geworden, versucht eine Brücke zu schlagen.

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Kann man zwei so weit voneinander abliegende Begriffe miteinander verbinden? Besteht hier nicht die Gefahr, einer Illusion zu erliegen?

Oder muß man sie etwa sogar miteinander verbinden, um nicht einen schweren Denkfehler zu begehen? („Denkkatastrophen" haben uns bekanntlich viel schwerer heimgesucht als Naturkatastrophen.)

Auf welchem Punkt, an welcher Linie berühren einander also diese Begriffe „Industrie" und „Brüderlichkeit"?

Die Industrie wird als soziotechni-sches System bezeichnet: Damit wird die enge Verbindung des Technisch-Maschinhaften mit dem Persönlich-Sozialen umschrieben, die in der Fabrikswelt wirksam ist.

Eine über die Technik in’die Industrie hereinreichcnde Naturwissenschaft und eine über die Ökonomie für die Industrie gültige und unausweichliche Rechenhaftigkeit stellen somit jenes Gegenüber dar, vor dem sich die Einsichten und Gebote des menschlichen Bereiches zu bewähren haben. Darin besteht das Drama industrieller Wirklichkeit.

Das Wort „Brüderlichkeit" entstammt dem christlichen Sprachschatz, ist gefühlsbetont angereichert und steht wohl für mitmenschliche Hingabe und gemüthafte Bewegtheit in der Begegnung mit anderen.

Diese besondere Wärme mag vielleicht in bezug auf den Industriebereich in den Hintergrund treten, das Einbringen unbedingter Redlichkeit, vorbehaltlosen Wahrnehmens des Interesses eines anderen, der so zum Partner wird, dem aller Ernst zugewandt wird, ist aber durchaus für die Industriewelt angemessen und geboten.

• Selbstverständlich steht der Moralanspruch der Welt an das Industriesystem im Vordergrund! Die Forderung nach korrekter naturwissenschaftlicher und Ingenieurleistung, nach Vertragseinhaltung und ökonomischem Gleichgewicht gilt eher als Erfüllung gesetzlicher Bestimmungen, wenngleich dies so einfach gar nicht ist. Auch hier muß ein redlicher „Geist" wirken.

Brüderlichkeitsleistung eines Industriebetriebs gegenüber den Menschen seiner Umwelt wäre so zu beschreiben:

Die Interessen der Kunden, der Lieferanten, der Behörden, der Anrainer haben in einer umfassenden Weise und ohne jeglichen Abstrich von allgemeinen ethischen Bedingungen Gegenstand des nachhaltigen Bemühens eines Industriebetriebs zu sein.

Die Nützlichkeit und der objektive Leistungsbeitrag des Industriesystems für die Wohlfahrt der Menschheit ist groß und augenscheinlich genug, daß sich alle Arten von unredlichen Manipulationen erübrigen.

Auf Industriesparten, die sich nur unter Schädigung wesentlicher Folgeinteressen entfalten könnten, kann die Welt verzichten. Es gehört nicht zum Wesen der Industrie, zwielichtige Nachfragen nach unnötigen oder gar schädlichen Produkten zu bewirken.

Wo sich unter Ausnützung hand-lungs- und verhandlungsfähiger Bevölkerungsteile oder Weltregionen industrielle Ausbreitung mit klarem Verstoß gegen fundamentale Lebensrechte durchsetzt, liegt selbstverständlich eine Verletzung des Brüderlichkeitsgebots vor.

Hierin liegt eine ganz besondere Erschwernis: Die rechnerischen Steuerungsinstrumente des Industriesystems verarbeiten menschliche Gebote nicht direkt. So nützlich Kosten-Nutzen-Berechnungen sind, so verwerflich unwirtschaftliche Abläufe sind, das ihnen zugrundeliegende „Kalkül", die Berechnung von Arbeitseinsätzen und Warenaufbringung kann nur schwer, manchmal überhaupt nicht alle nach den Geboten der „Brüderlichkeit" zu berücksichtigenden Folgen mitberechnen.

Freilich sind auch in dieser Hinsicht Verbesserungen bereits eingetreten und entscheidende Fortschritte zeichnen sich bereits ab.

Der Moralkodex des Industriesystems muß somit an den Grenzen des derzeit noch unterentwickelten mengenmäßigen Entscheidungskalküls mit der Forderung ansetzen, daß alle Fortschritts- und Wachstumsbemühungen unter Bedachtnahme auf die persönlichen Lebensbedürfnisse der Abnehmer oder des Abnehmerlandes auch dann wahrzunehmen sind, wenn sie nicht oder noch nicht in Gesetzesform als Regulator und kalkulatorischer Randbedingung zwingend vorgeschrieben sind. • Die Industrie muß von der Welt die Anerkennung als leistungsfähiger Lieferant materieller Güter erwarten. Der

Respekt vor leiblicher Not gebietet gewissenhafte Befassung mit jener Produktionskraft, die diese beheben kann.

Internationale Wirtschaftsvergleiche beweisen, daß nur dort die Lebenserwartung etwa 70 Jahre beträgt, wo an der gesamten Wirtschaftskraft 30 bis 40 Prozent Industrie-Produktion beteiligt ist.

Dort wo die fabriksmäßige Herstellung von Gütern diesen Rang nicht erreicht und auf etwa 20 Prozent oder noch weniger Prozent der Gesamtwirt-schaftsleistung absinkt, sind auch die Lebensmittelproduktion und Lebenserwartung niedrig.

Manchen idealistischen Kritikern an diesem System und am ungleichen Weltgüteraufkommen muß folgende Denkleistung abverlangt werden: Moralische Forderungen müssen in mengenmäßige Ansätze übersetzt werden, damit sie zur Steuerung des an sich so nützlichen industriellen Apparats wirk^ sam sein können!

Eine so anspruchsvolle und hochentwickelte Gesetzgebung wie zum Beispiel das österreichische Steuerrecht, Sozialversicherungsrecht, die Gewerbeordnung und Unfallverhütungsvorschrift, Zoll- und Verkehrsbestimmung, Berufsrecht und sozialpartnerschaftliche Regelung kann als Muster. für den Aufbau sinnreicher Rahmenbedingungen für industrielle Leistung be-ZKchnet werden.

Aber sogar dieses fortgeschrittene österreichische Rechtswesen ist weiterzuentwickeln um veränderte Kostenrechnungsregeln der Umweltsicherung, Lebensqualität, Forschung usw.

Ein Beispiel für richtige mengenmäßige Beantwortung der Weltnot ist der auf der 5. UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung 1979 in Manila bekräftige Beschluß der westlichen Industrieländer, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes als staatliche Entwicklungshilfe jährlich aufzubringen;

• Für ein Industrieunternehmen steht die nach innen gerichtete „Brüderlich-keitspflicht" vor dem Hindernis eines zwingend gebotenen straffen Aufbaus, der einerseits auf Arbeitsteilung, Spezialisierung, Leistungsvorgabe beruht, andererseits aber durchlässig für sinnstiftende Informationen in jede Richtung sein soll.

Abgesehen von menschlichen Schwächen, die überall auftreten, gelten hier schwerwiegende mechanische Trägheitsgesetze und organisatorische Beschränkungen. Solange die Oberwindung von Schwerkraft, Rost und Zerfall, Müdigkeit und Unwissenheit jeder menschlichen Arbeit auferlegt ist, sind mindestens dort die Grenzen für den Abbau von Arbeitsleid erreicht.

Aber es ist keine Frage, daß bis zu deren Erreichung noch viel zur Verbesserung getan werden muß. Das Durchdringen elektronischer Hilfsmittel, die Kostensenkung für Nachrichtenübermittlung und Transportmöglichkeiten sind Ansätze für die Erschließung heute noch ungeahnter „Nachrichtenmuster" für alle Mitarbeiter eines großen Bereichs.

Diese Entwicklung ist nicht nur im Sinne der Humanisierung von Arbeitsplätzen zu begrüßen, sondern sie ist auch die Grundlage fiir jene Erneuerungskraft, die in den kommenden Jahrzehnten die Entwicklung zu immer hilfreicheren industriellen Leistungsangeboten tragen wird.

So gesehen wird eine neu verstandene alle Vorgänge aufschließende Brüderlichkeit unter den Tausenden Arbeitnehmern des Industriesystems jene persön-lichkeitszerstörende Vereinzelung aufheben, die derzeit oft noch als lähmende Barriere vor der gebotenen Weiterentwicklung liegt.

• Die organisatorische und informative Offenheit, die ein Industriesystem nach innen einrichten und durchhalten muß, um den menschlichen Bedürfnissen aller seiner Angehörigen voll zu entsprechen, haben die dieses System tragenden Mitarbeiter mit realen Brüderlichkeitsleistungen zu erfüllen!

Dies erstreckt sich sowohl auf die tätige Anteilnahme am Endzweck und den Teilzielen ihres Industriebetriebs, wie auch auf die persönliche Begegnung mit allen anderen Mitarbeitern.

Hierbei ist folgende Tatsache nochmals herauszustreichen: Der oben beschriebene gesellschaftliche und persönliche Leistungsendzweck der industriellen Arbeitswelt ist im alltäglichen praktischen Vollzug nicht direkt erreichbar!

Dieser Endzweck kann nur indirekt verfolgt werden, indem das Unternehmen nach objektiven Signalen gesteuert wird, die von den Naturgesetzen und materiellen Mängeln und Engpässen ausgehen.

Somit kommt der Bereitschaft zur Brüderlichkeit aller Mitglieder eines Industriesystems auf eine unersetzbare Weise die Funktion der Endzweckerfüllung zu: Sie allein nämlich können das „interdisziplinäre" und notgedrungen versachlichte, „materialistische" Gehäuse des Industriesystems - das aus menschlicher Sicht ebenso unersetzlich wie unzureichend ist - mit den Werten mitmenschlicher Zuneigung so erfüllen, daß es ein Ort menschenwürdigen, brüderlichen Arbeitens ist.

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