Klagemauer - © iStock/alexsl

Ist der Islam antisemitisch?

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Der Judenhass in muslimischen Communitys - hierzulande ebenso wie in der islamischen Welt und in den sozialen Medien - schockiert. Und bleibt dennoch eine Frage ohne einfache Antworten.

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Der Judenhass in muslimischen Communitys - hierzulande ebenso wie in der islamischen Welt und in den sozialen Medien - schockiert. Und bleibt dennoch eine Frage ohne einfache Antworten.

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„Dr. Blume, Sie sind doch Religionswissenschafter und haben ein Buch über die Krise des Islams geschrieben! Also: Ist der Islam kriegerisch, ist er antisemitisch?“

Seit dem massenmörderischen Terror-Massaker der Hamas an weit über tausend vorwiegend jüdischen Israelis bekomme ich diese und ähnliche Fragen täglich gestellt. Denn immerhin steht die Abkürzung „Hamas“ für arabisch Harakat al-muqāwamat al-islāmiyya, deutsch: Islamische Widerstandsbewegung. Und hat nicht auch der Prophet des Islam, Mohammed, jüdische Oppositionelle in Medina niedermetzeln lassen?

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Oft schwingt bei den Fragen eine Angst mit: Wenn „der Islam“ antisemitisch wäre, dann gäbe es keine realistische Hoffnung auf Frieden. Nicht selten höre ich aber auch eine Erwartung: Endlich wieder ein klares Feindbild, das die Komplexität des Lebens und der Politik reduziert!

Religionen und Auslegungen

Die richtige Antwort auf diese Frage ist jedoch: Es kommt darauf an. Religionen werden täglich neu ausgedeutet, meist in unter­einander konkurrierenden Flügeln. Deswegen ist die Anhängerschaft Jesu und des Buddhas keineswegs immer friedlich gewesen, ebenso wenig wie die Schüler von Moses – der laut Bibel am Berg Sinai ein Massaker anführt - oder eben von Mohammed stets Schwerter geschwungen haben.

Für die Frage, welche Auslegungen sich in einer Religion durchsetzen, kommt es vor allem auf die Medien und die Wirtschaft an: Wer bestimmt das Wort, wer das Geld?

Über Jahrhunderte galten Juden ebenso wie Christen in den islamischen Reichen als Volk der Schrift – ahl al-kitab – und durften also unter Zahlung einer Schutzsteuer als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse einigermaßen sicher leben. Sehr oft ging es ihnen dabei besser als Jüdinnen und Juden in den christlichen Reichen.

Der Islam erlebte nach 1485 keine Reformation, kein radikales Täuferreich, keinen Dreißigjährigen Krieg. All das erlebt er jetzt.

Dies änderte sich jedoch mit einem verhängnisvollen Verbot des Buchdrucks arabischer Lettern durch Sultan Bayazid II. um 1485. Zunächst konnte das gerade um Konstantinopel, jetzt Istanbul, erweiterte Osmanische Reich damit die Sprengwirkung des um 1450 entwickelten, europäischen Buchdrucks abfedern: Der Islam erlebte damals keine Reformation, kein radikales Täuferreich von Münster, keinen Dreißigjährigen Krieg. All das erlebt er jetzt.

Denn die Verzögerung der Medienrevolution führte dazu, dass sich Völker, die in arabischen Alphabeten schrieben – also auch etwa Türken, Kurden, Perser – viel langsamer alphabetisierten. Die armenischen, jüdischen, griechischen Minderheiten im Osmanischen Reich verfügten dagegen bald über gedruckte Bücher, der Wert von Bildung stieg.

Und in Europa eskalierte die Alphabetisierung bis zum Druck von Tageszeitungen, dem Fundament jeder rechtsstaatlichen Republik: Um 1800 konnte bereits eine Mehrheit der Deutsch- und Englischsprechenden Lesen und Schreiben, die ersten Zeitungen druckten bereits Leserbriefe. Selbst im damals als „rückständig“ verlachten Portugal lasen bereits um die 20 Prozent. In der lange führenden, islamischen Kultur waren es dagegen noch immer unter fünf Prozent.

Zu den Folgen der sich schnell öffnenden Bildungsschere gehörte, dass Europa technologisch, wirtschaftlich und auch militärisch die islamische Hochkultur hinter sich ließ: Schon 1571 unterlagen die osmanischen Schiffe bei der Seeschlacht von Lepanto. 1683 scheiterte dann die letzte, osmanische Belagerung von Wien. Der Imperialismus drehte sich und das islamische Kalifat wurde bald als „kranker Mann am Bosporus“ bezeichnet und zur Beute nun christlich geprägter Imperien.

Entsprechend versuchte etwa Kemal Atatürk noch 1929 mit der Einführung eines lateinischen anstelle des arabisch-osmanischen Alphabetes den enormen Alphabetisierungsrückstand der Türken aufzuholen. Noch die Eltern meiner Ehefrau Zehra gehörten zur ersten Generation in ihren anatolischen Dörfern, die allgemeinbildende Grundschulen besuchen konnten.

Politische Propaganda

Ich habe selbst in mehreren islamisch geprägten Ländern erlebt, dass die wenigsten Musliminnen und Muslime diese Zusammenhänge kennen. Stattdessen wird ihnen – wie übrigens auch arabischen Christen – oft schon in Schulen und durch Regierungspropaganda eingetrichtert: Wir waren einst ein großes und geeintes Reich, bevor die Juden (die erste, alphabetisierte Religion) und der Westen unsere Hochkultur durch Verschwörungen vernichteten! Sie hätten dabei die Toleranz der islamischen Welt ausgenutzt und gegen diese gewendet.

Dazu wurden antisemitische Verschwörungsmythen aus Europa mit islamischen Traditionen verschmolzen. So übernahmen gerade auch die aus Ägypten ausgehenden Muslimbrüder samt ihrer Tochtergründung Hamas etwa die üble, aus Russland stammende Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“. Das judenfeindliche und buchstäblich mörderische Bündnis zwischen Adolf Hitler und dem arabischen Großmufti Amin al-Hussaini wirkt bis heute verhängnisvoll nach.

Anstelle einer ehrlichen Selbstkritik und entschlossenen Bildungs-Entwicklung trat das antisemitische Selbstverständnis eines durch Notwehr gerechtfertigten „islamischen Widerstands“ gegen eine angebliche jüdische Weltverschwörung, die am Ende durch Terror und eine apokalyptische Endschlacht zu besiegen sei.

Auch das schiitische Regime des Iran und die von ihnen bestimmte Hisbollah im Libanon, Teile der arabisch-säkularen Baath-Partei­en, der palästinensischen PLO und Fatah sowie die sunnitische Al-Kaida und der zeitweise in Regionen Syriens und des Irak herrschende „Islamische Staat“ schlossen sich dieser verschwörungsmythologischen Logik an. Eine friedvolle Zwei-Staaten-Lösung mit Israel konnte es laut dieser antisemitischen Logik nicht geben, sondern allenfalls kurze Fristen des Waffenstillstandes bis zur völligen Vernichtung des Staates Israel.

Die Gier des Westens nach Erdöl und Erdgas führte schon im 20. Jahrhundert zum Bündnis mit korrupten Autokratien. So wurden Regime wie die saudiarabischen, katarischen und kuwaitischen Herrscherhäuser, der diktatorische Schah von Persien oder auch der irakische Massenmörder Saddam Hussein mit Geld und westlichen Waffen ausgestattet.

Nachdem die Zerstörung Israels durch arabische Armeen im Jom-Kippur-Krieg vor genau 50 Jahren gescheitert war, konnten die öl- und gasreichen Regime mit OPEC-Kartellabsprachen sogar die Preise emportreiben – bis heute. Auch die Sowjetunion wurde durch fossile Rohstoffeinnahmen um etwa zwei Jahrzehnte verlängert. Die massenhafte Verbrennung von Erdöl und Erdgas vergiftete nicht nur unsere Atmosphäre, sondern auch Politik und religiöse Traditionen.

Vom Westen mitfinanzierter Judenhass

Die derzeit in europäischen Medien oft zu lesende Belehrung, dass die israelische Rechte die Gefahr durch die Hamas unterschätzt und etwa deren Finanzierung durch Katar gestattet habe, ist also zu ergänzen: Auch die europäische und amerikanische Rechte versagte strategisch, indem sie die Energiewende von fossilen zu erneuerbaren Energien massiv verzögerte. Bis heute finanzieren wir durch Gasimporte etwa den Hamas-Verbündeten Katar und beziehen über den Zwischenhändler Indien weiterhin russisches und iranisches Öl. Wir bezahlen täglich jene antisemitische Propaganda, Raketen und Terrorangriffe gegen Israel und Ukraine mit, die wir dann lautstark beklagen.

Aber auch viele westliche Linke bis hin zu Greta Thunberg haben sich intellektuell und moralisch heillos verrannt und die islamistisch-antisemitischen Mord- und Terrorkampagnen als vermeintlichen „Freiheitskampf“ gegen „Kolonialismus“ romantisiert. Während Wissenschaften und Technologien auch während der Covid 19-Pandemie von sogenannten Querdenkern mit Verschwörungsmythen attackiert wurden, stärken sich die Feinde der offenen Gesellschaften weiter an fossilen Einnahmen und an durch die Klima- und Wasserkrise verschärften Migrationsströmen. Wir haben noch lange Kämpfe mit antisemitischer Propaganda und Gewalt vor uns – die wir nur gewinnen werden, wenn wir uns auch selbst in Frage stellen und verändern.

Der Autor ist Religions- und Politikwissenschaftler sowie Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet, dreifacher Vater und veröffentlichte Bücher wie „Islam in der Krise“ (2017) und „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“ (2019).

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