Kehrtwendung des Lehramtes

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John T. Pawlikowski, Präsident des Internationalen Rates der Christen und Juden sowie Professor für christlich-jüdische Studien am Catholic Union College in Chicago, erläutert den Stand des christlich-jüdischen Gesprächs sowie seine Vorbehalte gegen eine Seligsprechung von Pius XII.

Die Furche: Sie plädieren für Neuansätze im christlich-jüdischen Dialog.

John T. Pawlikowski: In den letzten 50 Jahren hat sich bei den Kirchen das theologische Verständnis des Judentums grundsätzlich verändert. Der kanadische Konzilstheologe Gregory Baum meinte einmal, das vierte Kapitel der Konzilserklärung Nostra Aetate von 1965, das vom Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum handelt, stelle die dramatischste Kehrtwendung des Lehramtes der Kirche dar. Denn seit den Kirchenvätern wurde das Kommen Jesu Christi als Ersetzen des Judentums und dessen Bundes mit Gott durch die christliche Kirche verstanden - auch bei den Protestanten und Orthodoxen. Nostra Aetate erteilte aller Kollektivschuld der Juden am Tod Christi eine Absage. Das war ein völliger Bruch mit der Tradition, die auf dem Ausschluss des Judentums vom Bund mit Gott beruhte: Nostra Aetate stellte fest, dass Jesus und die frühe Kirche tief im Judentum verwurzelt waren.

Nach diesem fundamentalen Wandel ist das Bild vom Judentum zu überdenken. Das betrifft die Theologie, aber noch mehr christliche Verkündigung und Kunst: Man denke an die berühmte Darstellung von Kirche und Synagoge am Straßburger Münster - die Kirche als vitale junge Frau, die Synagoge als gebrochene Frau mit verbundenen Augen und zerbrochenen Gesetzestafeln. Heute ist das inakzeptabel.

Daher ist das Bild des christlich-jüdischen Verhältnisses neu zu denken. Es gibt dazu verschiedene Vorschläge, etwa Christen und Juden als Geschwister zu verstehen: Geschwister sind eins in der Abstammung, aber verschieden in ihrer Persönlichkeit. Meine Kollegin Mary Boys bezeichnet Christen und Juden gar als zweieiige Zwillinge. Andere Bilder sind Christen und Juden als zwei Gemeinschaften, die auf das Kommen des Messias warten - wie immer dieses Kommen konkret beschrieben wird. Andere Autoren sprechen von Mutter und Tochter oder älterem und jüngerem Bruder.

All das ist viel positiver als die Darstellung am Straßburger Münster, aber diese Bilder sind immer noch sehr "linear": der jüngere Bruder kommt nach dem älteren ... Es geht aber mehr um ein "paralleles", nicht um ein "lineares" Verhältnis". Man kann das so ausdrücken wie der jüdische Theologe Daniel Boyart: Das Judentum des zweiten Tempels, der 70 n.Chr. von den Römern zerstört wurde, entwickelte sich in zwei Bewegungen - die eine wurde zur christlichen Kirche, die andere zum rabbinischen Judentum.

Die Furche: Wenn Christen von Juden als Geschwistern sprechen: Fühlen sich die Juden da nicht vereinnahmt?

Pawlikowski: Weder auf der christlichen noch auf der jüdischen Seite werden alle neuen Vorschläge gleich akzeptiert. Auch Christen sind übers neue Verhältnis befremdet! Diese Leute wollen die absolute Überlegenheit und Endgültigkeit des Christentums.

Und auch bei den orthodoxen Juden gibt es viele, die besorgt sind. Ein Beispiel dafür war jüngst ein Buch von Rabbi Jonathan Sacks in England, in dem er schrieb, man müsse den Glauben eines Gläubigen einer anderen Religion respektieren. Für unsereinen klingt das nicht sehr revolutionär, aber ein wichtiger Führer des orthodoxen Judentums hat dies bis jetzt so noch nicht geäußert.

Sacks schrieb weiters, dass im Glauben eines Andersgläubigen auch eine Wahrheit enthalten sei. Diese Aussage erregte den Unmut seiner orthodoxen Kollegen. Kürzlich brachte Sacks eine Neuauflage des Buches heraus, in der obige Meinung zurückgenommen ist ...

Die Furche: Das klingt wie bei den Katholiken, wo nach der Revolution von Nostra Aetate mit "Dominus Iesus" (2000) wieder die Betonung der "Einzigkeit der katholischen" Kirche folgte .

Pawlikowski: Einige meinen, "Dominus Iesus" betreffe die Juden nicht, sondern nur die anderen Religionen. Wie auch immer: Kardinal Ratzinger von der Glaubenskongregation hat öfters darauf hingewiesen, das Judentum sei anders zu behandeln als andere Religionen.

Auch der Papst selbst hat im interreligiösen Dialog wichtige Zeichen gesetzt: So beim Friedenstreffen in Assisi 2002, wo der Papst in der Mitte thronte - wie in purer "Dominus Iesus"-Theologie - und daneben diejenigen protestantischen und orthodoxen Kirchen, die von Rom als sakramentale Kirche anerkannt werden, Angehörige der "nichtsakramentalen" protestantischen Kirchen waren eine Stufe darunter platziert. Die einzigen, die noch neben dem Papst saßen, waren die jüdischen Vertreter. Dieses nonverbale Statement ist interessant: Juden sind - aus katholischer Perspektive - näher an der Mitte der Kirche (repräsentiert durch den Papst) als viele Protestanten ...

Die Frage, die bei all diesen neuen Bildern des Judentums - ob Geschwister, Zwillinge ... - unweigerlich auf der Tagesordnung steht, ist die nach der Judenmission: Sollen Juden evangelisiert werden?

Dies wird zur Zeit in den USA kontrovers diskutiert. Eine im Auftrag der US-Bischöfe erstellte Studie "Reflexion über Bund und Mission" sprach sich dagegen aus - und erntete heftigen Widerspruch etwa der Southern Baptists und konservativer Katholiken, allen voran des Theologen und Kardinals Avery Dulles. Hingegen meinte Kardinal Walter Kasper, der Leiter des vatikanischen Kommission für die Beziehungen zu den Juden, im Herbst in den USA, die Studie weise in eine wichtige Richtung. Kaspar hat wiederholt davon gesprochen, dass die Juden durch ihren Gehorsam gegenüber der Tora gerettet seien und nicht notwendigerweise evangelisiert werden müssten.

Die Furche: Es gab auch von jüdischer Seite Äußerungen übers Verhältnis zum Christentum. Am bekanntesten davon ist die - mittlerweile von weit über 200 jüdischen Theologen vor allem aus den USA unterzeichnete - Erklärung "Dabru emet - Sagt die Wahrheit".

Pawlikowski: Das Dokument ist ein wichtiger Durchbruch, weil es andeutet, dass Juden nicht nur an einem praktischen Verhältnis der Christen zum Judentum interessiert sind - angesichts der negativen Lehren der Kirchen bis zum Antisemitismus. Dabru emet argumentiert, dass es darüber hinaus auch theologische Fragen des jüdisch-christlichen Verhältnisses, die auch die Juden betreffen, gibt. In einigen Aspekten könne das Judentum selbst etwas vom Christentum lernen. Aber auch Dabru emet rief jüdische Kritiker auf den Plan, die sich vor allem auf die eindimensionale Darstellung des Holocaust bezogen, von dem es in Dabru emet heißt, er sei kein christliches Phänomen. Auch die Aussage, dass Juden und Christen denselben Gott verehren, wurde kritisiert: Der christliche Gott habe eine trinitarische Dimension, was ein Jude nicht akzeptieren könne. Allerdings hat Dabru emet innerhalb des Judentums ein Gespräch übers jüdisch-christliche Verhältnis in Gang gebracht, ein Gespräch, das zuvor nicht existierte.

Die Furche: Haben die Schoa und das Verhalten der Kirche dabei das jüdisch-christliche Gespräch beeinflusst?

Pawlikowski: Vor allem in der nichtakademischen Diskussion war der Holocaust ein wesentlicher Punkt zwischen Christen und Juden. Aus Rom ist dazu meist zu hören, dies sei nicht die einzige Frage, Pius XII. sei schon kritisiert worden: Diese Reaktion ist sehr defensiv. Man muss hier einen neuen Zugang wählen: Dass Pius XII. nur geschwiegen hat, stimmt so nicht. Eher trifft zu, dass er nur wenig öffentlich gesagt hat. Pius XII. hat etwas getan. Die Frage ist, ob er genug, und ob er es früh genug getan hat. Ein Problem einiger katholischer Kritiker ist, dass es ihnen mehr um Kritik am heutigen Papst und seiner Amtsführung geht als um Pius XII. So verglich jüngst auf einer Holocaust-Tagung in den USA einer dieser Kritiker das Verhalten des Bostoner Kardinals Law im aktuellen Pädophilie-Skandal mit Pius' XII. Schweigen zum Holocaust: Das ist übers Ziel hinaus geschossen!

Die Furche: Würde die Seligsprechung Pius XII. den christlich-jüdischen Dialog beeinträchtigen?

Pawlikowski: Ja. Es würde aber auch die Wichtigkeit katholischen Nachdenkens über die NS-Zeit beeinträchtigen. Ich bin überzeugt, dass die Kirche eine seriöse historische Untersuchung über die Rolle Pius XII. erlauben muss. Sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Wir wissen nicht, was herauskommt - vielleicht eine sehr ambivalente Geschichte. Eine Seligsprechung von Pius XII. zum jetzigen Zeitpunkt würde es für katholische Historiker sehr, sehr schwer machen, diese Arbeit seriös weiterzuführen.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

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