Fundament für sozialen Zusammenhalt

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"Nostra Aetate" setzt sich nicht nur mit dem Judentum, sondern mit den nichtchristlichen Religionen insgesamt auseinander, die, so das Konzilsdokument, "einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet". Auch diese Aussage war 1965 revolutionär.

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"Nostra Aetate" setzt sich nicht nur mit dem Judentum, sondern mit den nichtchristlichen Religionen insgesamt auseinander, die, so das Konzilsdokument, "einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet". Auch diese Aussage war 1965 revolutionär.

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Die Erklärung Nostra Aetate gilt zu Recht, trotz ihrer Kürze, als eines der wichtigsten Dokumente des Konzils. Sie bildet die Magna Charta des interreligiösen Dialogs, die die Wende zu einem neuen religiösen Stil der katholischen Kirche lehramtlich begründet, was die Haltung gegenüber den anderen Religionen betrifft: von der Konfrontation zum Dialog, von einer Lehre der Verachtung der religiös Anderen - vor allem des Judentums - zur Haltung der Wertschätzung und des Lernens voneinander, von der harten Abgrenzung zur Wiederentdeckung der grundlegenden Gemeinsamkeiten im Fall der "abrahamitischen Religionen". NA ist Teil eines epochalen Paradigmenwechsels, in dem der schwere Tanker der Kirche sich langsam und mühsam in Richtung eines offenen Dialogs mit der Moderne wendete. Der reaktionäre Flügel rund um Erzbischof Lefebvre, für den Exklusivismus, Antisemitismus und Islamhass wesentlich zur Definition katholischer Identität gehörte, erkannte sehr klar den Bruch der Tradition, den Nostra Aetate zusammen mit der Erklärung zur Religionsfreiheit Dignitatis Humanae markiert - beide gehören zu den Gründen, warum die Pius-Bruderschaft das Konzil bis heute nicht anerkennt.

Weiterentwicklung unter Johannes Paul II.

Die Neubestimmung der interreligiösen Beziehungen wirkte weit über die katholische Kirche hinaus: Ab den 1970er-Jahren fanden mehrere muslimische Dialogkonferenzen statt, entstanden muslimische Erklärungen zum interreligiösen Dialog, bis hin zum Dokument "Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch"(2007). 1979 folgte der Ökumenische Rat der Kirchen mit dem Dokument "Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien". Durch die vertrauensbildende Vorleistung der katholischen Kirche als größter Player war insgesamt Bewegung in die Beziehungen der Religionsgemeinschaften gekommen. Es kam zu einer Entspannung der "mimetischen Konkurrenz" (René Girard) zwischen den Religionen. Bei allem Stolz von Katholiken auf diese Entwicklung sollte man dabei aber nicht vergessen, dass es erst des Zivilisationsbruchs Auschwitz bedurfte und vor dem Konzil mehrerer Initiativen durch Vertreter des jüdisch-katholischen Dialogs, die eine Umkehr der Kirche in ihrer Haltung gegenüber den Juden erwirkte, und in ihrem Gefolge gegenüber den anderen Religionen insgesamt.

Eine wesentliche Weiterentwicklung des interreligiösen Dialogs erfolgte im langen Pontifikat von Johannes Paul II.(1978-2005). Dieser Papst setzte entschlossene Zeichen der erneuerten Haltung der katholischen Kirche gegenüber den anderen Religionen. Sie reichten vom Besuch der Großen Synagoge in Rom im April 1986, den drei Friedensgebeten der Religionen in Assisi (1986, 1993 und 2002), dem Abschluss des Grundlagenvertrags zwischen dem Vatikan und Israel im Dezember 1993, bis zum Besuch der Omaijaden-Moschee in Damaskus im Mai 2001. Die neue, konstruktive Haltung gegenüber den Muslimen kam besonders deutlich in der Ansprache des Papstes vor 80.000 jungen Muslimen im Sportstadion in Casablanca zum Ausdruck, die er auf Einladung des marokkanischen Königs im August 1985 hielt. Er betonte darin die grundlegenden Gemeinsamkeiten von Christen und Muslimen, die vor dem Horizont von Kriegen, Gewalt und Spaltungen die Einheit und Geschwisterlichkeit der Menschen fördern könnten und sollten.

Die Handlungen und Ansprachen des Papstes bilden eine Exegese von Nostra Aetate, eine Konkretisierung der darin vorgenommenen Verpflichtung der katholischen Kirche, für Verständigung, Achtung und Vertrauen zwischen den Religionen einzutreten, gegenseitiges Misstrauen und Spaltungen zu überwinden und auf Basis gemeinsamer Grundwerte für eine gerechtere und gewaltlosere Welt zusammenzuarbeiten. In diese Aufbruchsphase des interreligiösen Dialogs der katholischen Kirche fielen schwierige internationale Entwicklungen, was das Verhältnis zwischen dem Westen und der islamischen Welt betrifft: ab den 1970er-Jahren der Aufstieg islamistischer Bewegungen, 1979 die Errichtung der Islamischen Republik im Iran, ab den 1990er-Jahren der Terror der El-Kaida, der "Krieg gegen den Terror" und 2003 der Einmarsch im Irak durch die US-geführte Allianz. Johannes Paul II. reagierte darauf mit einer Verstärkung der Dialog-und Friedensbemühungen der Kirche, nach 9/11 u. a. in Form des Solidaritätsfastens zusammen mit den Muslimen im Dezember und des dritten Friedensgebets in Assisi im Jänner 2002.

Katholischer Rückzug vom Dialog?

Diese Erinnerung ist wichtig in einer Phase, in der teilweise ein Backlash des interreligiösen Dialogs der katholischen Kirche festzustellen ist. Signale gewisser Rückzugstendenzen im Fall des österreichischen Episkopats sind die Einstellung der Finanzierung und dann 2011 die Schließung der "Kontaktstelle Weltreligionen" durch die Bischofskonferenz, sowie das dröhnende Schweigen der katholischen Kirche während des parlamentarischen Begutachtungsverfahrens des neuen Islamgesetzes von 2015. Vielfach wird dieser Rückzug von Kirchenvertretern mit den globalen politischen Bedingungen der Beziehungen von Christentum und Islam begründet, die vom dschihadistischen Terror der Al-Kaida und neuerdings des Islamischen Staates schwer belastet sind. Gegenwärtig erleben wir den Kollaps einer Jahrhunderte alten Kultur des christlich-muslimischen Zusammenlebens in Syrien und im Irak. In diesem Kontext scheint der alte religiöse Stil der Abgrenzung wieder einzurasten, eine dialogische Theologie als blauäugig verunglimpft und die mimetische Konkurrenz verstärkt zu werden.

Aber Nostra Aetate ist kein Text aus optimistischeren Zeiten, den man nun zu den Akten legen könnte. Der interreligiöse Dialog ist keine Schönwetterveranstaltung, die man in stürmischeren Verhältnissen absagen kann. Er ist eine Selbstverpflichtung, die die katholische Kirche eingegangen ist und mit ihrer höchsten Lehrautorität im Kern ihrer Identität, Glaubenslehre und Glaubenspraxis verankert hat. In einer hochkonfliktiven globalen Situation, in der religiöse Faktoren als Brandbeschleuniger ethnisch-politischer Konflikte fungieren, ist das Prinzip des Dialogs, des entfeindenden Gesprächs und der Kritik religiös begründeter Gewalt aus der Mitte des Glaubens heraus ein zentraler kirchlicher Friedensbeitrag.

Muslimische Flüchtlinge in der EU

Die gegenwärtige europäische Auseinandersetzung mit der Fluchtmigration aus dem Nahen Osten und Afrika in die EU hat eine kulturelle Tiefenebene, die wesentlich den Islam in seinem Verhältnis zu Europa betrifft. Im kollektiven Gedächtnis der europäischen Gesellschaften lagern mythische Bilder und Emotionen vom Islam als des "Ganz Anderen" Europas, des alten osmanischen Erbfeinds und vom "Abendland" als christliches Bollwerk gegen den Islam, auf die ein aggressiver nationalistischer Diskurs heute zugreift, sie aktualisiert und gegen das Projekt einer pluralistischen, rechtsstaatlichen EU in Stellung bringt. Ein Beispiel für Ungarn sind die Aussagen des katholischen Bischofs von Szeged-Csanád, László Kiss-Rigó, mit denen er die Flüchtlingspolitik von Viktor Orbán explizit unterstützte: "Sie sind keine Flüchtlinge. Das ist eine Invasion. [...] Sie kommen hierher mit Rufen 'Allahu Akbar'. Sie wollen die Kontrolle übernehmen." Europa werde überschwemmt von Leuten, die sich als Flüchtlinge ausgeben würden, tatsächlich aber eine schwere Bedrohung für die "christlichen, universalen Werte" des Kontinents darstellen würden.

Die polarisierte Diskussion rund um die Aufnahme von Flüchtlingen muslimischer Zugehörigkeit, die auch in die katholische Kirche reicht, aber auch die globalen Konflikte und die wachsende religiöse Pluralisierung Europas insgesamt zeigen, wie dringend das Projekt des interreligiösen, v. a. des christlich-muslimischen Dialogs ist: des Kennenlernens, der Vertrauensbildung, der Kooperation von Christen und Muslimen, der gemeinsamen Kritik an religiösen Pathologien und Gewalttheologien, der Kunst des Zusammenlebens. Für den sozialen Zusammenhalt ist der institutionelle Ausbau des interreligiösen Dialogs und der differenzierten, aufgeklärten Auseinandersetzung mit dem Islam wesentlich. Für dieses Projekt, bei dem wir - die erste Generation nach Nostra Aetate - im Grunde erst am Anfang stehen, bildet das Dokument und seine Auslegung in den letzten 50 Jahren ein stabiles Fundament.

Der Autor ist Dozent für Religionswissenschaft und leitet den Masterlehrgang "Interreligöser Dialog" an der Donau-Uni Krems

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