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Zwischen den Extremen

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Aber dort, wo diese beiden wichtigen Faktoren nicht zusammen vorhanden sind, zum Beispiel wo der Glaube schwankt und die Religion zerstört ist, und damit, wie wir sagten, das Wesentliche der Kultur fehlt, wird keine koordinierte Zusammenarbeit möglich sein. Denn bei den oben genannten Gruppen ist ja die eigene Volkstümlichkeit eine Phrase, eine leere Form ohne Inhalt. Ihr Dasein hat keinen festen Bestand, und bei einer Zusammenarbeit mit anderen werden sie sich als die Schwächeren notwendig zu dem Stärkeren assimilieren und in Ihm aufgehen.

Aber dasselbe, was für die progressiven Juden gilt, gilt auch für die extrem orthodoxen Juden. Sie können auch nicht zu den Helfern der Menschheit gerechnet werden. Sie können auch nicht in das Buch des wahren Judentums eingetragen werden. Denn sie negieren den realen Teil des Daseins des Judentums. Sie verwerfen alles Nützliche und Brauchbare, sogar solches, was der Religion nicht widerspricht, sondern umgekehrt zur Ausübung derselben nötig und unerläßlich ist. Solche Menschen haben sich von dem jüdischen Bund losgelöst, und auch sie sind von der großen Familie der Menschheit abgerissen worden.

So sehen wir, wenn wir von einer wirklichen Zusammenarbeit von Seiten der Juden sprechen wollen, daß nur ein Teil, der als gemäßigtes orthodoxes Judentum bezeichnet wird, dafür in Betracht kommen kann. Deswegen ist seine Stellungnahme ausschlaggebend für das ganze Judentum.

Und damit möchte ich mit einigen Worten die konkrete Stellungnahme des Judentums zu einem der wichtigsten Probleme unserer Zeit, zur Möglichkeit der Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Christentum und Judentum, skizzieren. Die Lösung dieses Problems kann als der Prüfstein zur Lösung aller schwierigen Probleme in der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden. Als Grundlage zur Möglichkeit der Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Christentum und Judentum ist eine richtige Prüfung der begangenen Fehler der Vergangenheit wie auch der Gegenwart notwendig, damit diese Fehler nach ihrer Aufspürung bereinigt und beseitigt werden, um dadurch den Weg zu einer wirklichen Zusammenarbeit bahnen zu können.

Der größte Fehler der Vergangenheit — der alle anderen in sich einschließt — war, daß das Gerechtigkeitsprinzip, welches zum Bestehen der menschlichen Gesellschaft unentbehrlich ist, verletzt worden ist.

Der Begriff der Gerechtigkeit — welcher besagt „Was dir nicht recht ist, tue dem anderen nicht“ —, der das berechtigte Dasein jedes Menschen sichert, ist von den 'Christen und hauptsächlich von “der, Kirche 'der früheren'' Zeitr“ dadurch' verschmäht worden, daß sie den Juden das Recht bezüglich der Ausübung ihrer eigenen überlieferten Religion absprachen. Diese Rechtsverletzung verursachte sukzessiv die Beraubung der gesamten Rechte der Juden. Damit wurden sie vogelfrei und zu Hitlers Gaskammern vorbereitet.

Der Fehler der Gegenwart, welcher die Verständigung und die Zusammenarbeit stört, liegt ebenfalls in der Verletzung des Gerechtigkeitsprinzips, wenn es sich auch jetzt bei dieser Verletzung eher um ein Mißverstehen des obengenannten Prinzips handelt.

Es wird uns Juden Grausamkeit vorgeworfen. Es wird gesagt, daß wir nicht vergessen und verzeihen wollen. Denn wir handeln nach dem strengen, grausamen Gerechtigkeitsprinzip des Alten Testamentes „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Keine Liebe, kein Wohlwollen ist bei uns zu finden, und dadurch zerstören wir total die Möglichkeit der Zusammenarbeit.

Es muß vor allem festgestellt werden, daß Gerechtigkeit mit Grausamkeit nicht identisch ist. Gerechtigkeit schließt alles Wertvolle in sich, was der Mensch zu einem rechtschaffenen Dasein benötigt. So ist die Gerechtigkeit Erzeugerin der wahren und richtigen Liebe. Ohne Gerechtigkeit ist keine richtige Liebe vorhanden. Denn nur ein Liebesakt, der nicht auf dem Gefühl fußt, sondern aus dem höchsten Gut der Menschheit, aus dem Gerechtigkeitssinn, hervorgeht, kann einen richtigen Wert besitzen.

Die falsche Liebe hat der Menschheit schon so viel Tränen und unschuldiges Blut gekostet, daß das Vertrauen in sie von der Menschheit mit Recht abgelehnt wird.

So aber schließt der Gerechtigkeitsbegriff auch den Begriff des Verzeihens in sich ein. Denn das Gesetz der Gerechtigkeit erfordert ja, daß man auf die Schwäche der menschlichen Natur und auf die daraus folgenden Irrtümer bedacht nimmt.

So ist im Wesen der Gerechtigkeit das Verzeihen und Vergeben eingeschlossen.

Wir Juden, die wir von ewig her traditionsgemäß dem Ideal der Gerechtigkeit huldigten, waren und sind mit dem ganzen Herzen zu vergeben und zu verzeihen immer bereit.

Aber weil das richtige Verzeihen in der Gerechtigkeit wurzelt, wird ein unrechtes Verzeihen, das das Gerechtigkeitsprinzip verletzt, streng untersagt.

Das mindeste, das nach dem Begriff der Gerechtigkeit gefordert werden muß, ist aber, daß der Sünder seine Schuld bekennt und diese bereut.

Deswegen gibt es für jene Leute, die unmittelbar am barbarischesten Geschehnis der Geschichte teilnahmen, kein Verzeihen!

Denn sie kennen kein Schuldbekenntnis, keine Reue. Menschen, die so sadistisch, so unmenschlich gehandelt haben, können sich nicht auf menschliche Irrtümer berufen. Solche Unmenschen, die sich an der Qual der Gepeinigten ergötzten und kleine, arme, unschuldige Kinder mit Wonne vernichteten, besitzen keine menschliche Seele, sie kennen keine Gewissensbisse. Sie sind wie die Raubtiere, die nur auf eine neue Gelegenheit warten, um wieder dieselben Untaten zu begehen.

Für diese gibt es kein Vergeben, keine Milde.

Denn bei diesen hilft keine Erziehung mehr. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft. Auf diese ist der wörtliche Sinn der Bibel — „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ — gesagt und mit Recht gefordert worden.

Denen, die sich an den obengenannten Schandtaten nicht unmittelbar beteiligt haben, aber doch durch ihre Gleichgültigkeit und Kaltherzigkeit den Unmenschen zur Ausführung ihres Sadismus Kraft verliehen und so damit unmittelbar geholfen haben, wird nach dem Gesetz der Gerechtigkeit ein .Recht s-.auf Verzeihen eingeräumt, aber vorerst wird von ihnen eHftö volles Schuldbekenntnis und eine wirkliche Reue gemäß dem Gesetz der Gerechtigkeit verlangt. Wenn das geschieht, wird von Seiten der Juden das Verzeihen und Vergeben mit dem ganzen Herzen geleistet.

Und somit sind wir bei der Möglichkeit der Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden in der Zukunft angelangt. Um das zu erreichen, müssen die begangenen Fehler der Vergangenheit von Grund aus bereinigt werden.

Das heißt, daß der Urfehler, den die Christen und hauptsächlich die Kirche der früheren Zeit gegen die Juden begangen haben, ein für allemal beseitigt werden muß.

Deswegen soll das Konzil deutlich verkünden, daß die jüdische Religion für den Juden dieselbe Kraft hat wie die christliche Religion für den Christen.

Diese Verkündigung soll mit folgenden Taten unterbaut und bekräftigt werden:

1. Alle Beschuldigungen und Schimpfausdrücke, die von der Seite der Kirche in der Vergangenheit gegen die Juden angewendet wurden, sollen mit dem strengsten kirchlichen Verbot untersagt werden.

2. Die Missionstätigkeit der Kirche, so im Land Israel wie auch unter den Juden der ganzen Welt, soll sistiert werden. ,

3. Das Recht des Judentums auf sein geliebtes Land Israel, das die Voraussetzung zur Einhaltung seiner Religion nach der Verkündigung des Alten Testamentes ist, soll von der Kirche mit vollem Ernst unterstützt werden.

Wenn diese von dem Juden berechtigt gestellten Forderungen von der Kirche erfüllt werden, hat die Kirche ihre richtige Reue für die Vergangenheit wie auch ihren guten Willen für die Zukunft gezeigt.

Durch diese Tat würden wir Juden mit unserer ganzen Kraft und mit unserer ganzen Hingebung zu einer wirklichen Zusammenarbeit bereit sein.

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