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Gibt es ein „fünftes Evangelium“?

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Die neuere Religionsgeschichte fragt nicht nur danach, ob und inwieweit die in den vier kanonischen Evangelien überlieferten Jesusworte auf den historischen Christus zurückgehen oder erst das Produkt der Verkündigung der christlichen Gemeinde über Jesus als den Christus darstellen, sondern sie forscht auch in den außerbiblischen Quellen nach vielleicht echten versprengten Jesusworten. Daß nicht alles, was Jesus gesagt hat, in den vier Evangelien des Neuen Testaments Aufnahme gefunden hat, ist wohl selbstverständlich, da die vier Evangelisten nur jene Aussprüche bringen, die ihnen für den Zweck ihrer Darstellung wichtig schienen. Außerdem hatten sie nicht nur Interesse an den Worten, sondern auch an den Taten Jesu und versuchten daher, beide gemeinsam ihrer Darstellung einzuverleiben. Daß es Jesusworte außerhalb der Evangelien gibt, ist nicht erst der modernen Forschung bekannt, sondern schon in der Apostelgeschichte 20, 35 wird ein Wort des Apostels Paulus im Namen unseres „Herrn Jesus“ zitiert, der da sprach: „Seliger ist geben denn-nehmen.“ Obwohl in der nichtbiblischen alten Literatur eine Reihe von Aussprüchen Jesu erwähnt wird, dürfte jedoch der weitaus größte Teil davon der Phantasie der Tradenten entsprungen sein, so daß man bei vorsichtiger Scfeäteurtg aqf-, höchstens ein Dutzend Aussprüche kommt, die von der modernen Forschung dem historischen Jesus zugesprochen werden können, nicht aber in unseren vier Evangelien aufscheinen.

Vor kurzer- Zeit ist nun die Kunde an die Oeffentlichkeit gedrungen, daß unter den koptischen gnostischen Texten, die in Aegypten in der Gegend des alten Chenoboskion gefunden wurden, ein sogenanntes „Evangelium nach Thomas* enthalten sein soll, von dessen Existenz schon die alten Kirchenschriftsteller berichtet haben. Im Zusammenhang mit den Pressenachrichten über dieses „Evangelium“ wurden Stimmen laut, die verlangten, daß man diese neugefundene Schrift dem Korpus der kanonischen Evangelien eingliedern und fortab nicht mehr von vier, sondern fünf Evangelien sprechen soll. Weiter stand in den Zeitungen zu lesen, daß dieses Evangelium eindeutig erkennen lasse, daß nach dem Wunsche des Herrn nicht Petrus, sondern Jakobus der Gerechte die bedeutsamste Person in der Nachfolge Christi sein sollte. Es kann sich dabei nur um Logion 12 handeln, wo es heißt: „Die Jünger sagten zu Jesus: Wir wissen, daß Du von uns gehen wirst. Wer ist es, der über uns groß sein soll?“ Jesus sagte zu ihnen: „Wohin ihr gekommen seid, ihr werdet zu Jakobus dem Gerechten gehen, dessentwillen der Himmel und die Erde entstanden sind.“ Daß ein solcher Satz, wohl nicht gut originär i'esu-anisch sein kann, fällt auf den ersten Blick auf, weil nach den kanonischen Evangelien das Vor-rangprpblem unter den Aposteln bewußt zurückgestellt wurde. Nur Petrus wurde zugesichert, daß er die Fundamente der Kirche zu tragen hätte (Mt. 16, 18). Damit kommt zwar Petrus eine Vorrangstellung auf die später der Kirche erwachsenden Aufgaben zu, ohne daß im Sinne des Thomasevangeliums von ihm wie dort von Jakobus behauptet worden wäre, daß um seinetwillen Himmel und Erde geschaffen wurden. Wenn in den kanonischen Evangelien schon ein Anklang an den zitierten Jesusspruch von Logion 12 gefunden werden könnte, dann wäre nur an Markus 9, 34 (vgl. Mt. 18, 1; Lk. 9, 46) zu denken, wo Jesus ausdrücklich Fragen über Vorrangprobleme unter den Aposteln, w': sie Logion 12 zugrunde liegen, mit den Worten zurückweist: „Wenn jemand der Erste sein will, so sei er der Letzte von allen und der Diener von allen.“ lium auf keinen Fall als Ganzes als eine vertrauenerweckende, historisch gut überlieferte Sammlung von Jesusworten angesehen werden kann, wollen wir hier kurz die Frage nach seiner religionsgeschichtlichen Herkunft und Einordnung sowie seine literargeschichtlichen Besonderheiten behandeln.

Das Thomasevangelium gehört zum Funde gnostischer koptischer Handschriften, die im Jahre 1945 bzw. 1946 gegenüber der Ortschaft Nag'Hammädi an der Stelle des alten Cheno-bcskion in Oberägypten gefunden wurden. Fellachen entdeckten am Abhang des Gebel et-Tarif einen Krug mit dreizehn Papyruskodizes, die insgesamt etwa tausend Seiten umfassen, von denen 794 gar nicht oder nur leicht beschädigt sind. Die Bibliothek von Chenoboskion zählt ungefähr 50 Einzelschriften. Eines dieser Werke ist das Thomasevangelium, das — sowie auch das valentinianische „Evangelium der Wahrheit“ — in mustergültiger Edition vorliegt, wenn es auch leider bisher noch keine wissenschaftlich ausreichende Kommentierung erfahren hat. Eine ausführlich kommentierte Ausgabe soll in Kürze erscheinen. Das Alter der Handschrift ist um etwa 400 n. Chr. anzusetzen, doch ist ihr Inhalt erheblich älter (etwa um die Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.), da der uns durch die Gnostikergemeinde von Chenoboskion überlieferte koptische Text auf ein höchstwahrscheinlich griechisches Original zurückgeht.

Das Thomasevangelium wird schon um 230 von Hippolyt (Refutatio V, 7, 20) in seinem Bericht über die gnostischen Naassener erwähnt. Auch Origenes und Eusebius von Caesarea (Kirchengeschichte III, 7, 20) nennen das Thomasevangelium und führen es unter den nichtkanonischen Evangelien an. Eine nähere Untersuchung des Textes bestätigt diese Angaben, denn als Quellen lassen sich vor allem Bruchstücke aus dem Aegypterevangelium und aus dem Hebräerevangelium ermitteln, die uns von den Autoren der alten Kirche überliefert werden. Unser Thomasevangelium hat mit der sogenannten apokryphen Kindheitsgeschichte Jesu Christi nach Thomas nichts zu tun, wohl aber scheinen die syrischen Thomasakten von ihm abhängig zu sein, woraus sich ergibt, daß auch das Thomasevangelium zumindest teilweise auf syrischem Boden entstanden sein kann. Außer dem bisher bekannten Text waren Bruchstücke aus dem Thomasevangelium schon aus dem sogenannten Papyrus Oxyrhynchos 1, 654, 655 bekannt.

Das Thomasevangelium enthält 114 Logien, die zum Teil direkt als Aussprüche Jesu gekennzeichnet und mit der Formel „Jesus sagte“ eingeleitet werden. Außer Jesusworten werden auch noch kurze Zwiegespräche erwähnt, wobei neben den Aposteln noch Maria (Magdalena) und Salome als Gesprächspartner aufscheinen. Einige Logien kommen in der Form von Seligpreisungen und Gleichnissen vom Himmelreich vor. Ungefähr die Hälfte der Sprüche sind uns in zumindest sehr ähnlichem Wortlaut auch aus den kanonischen^Ejangelie^ bekannt, woraus ^hejvor-. geht, daß der Autor wenigstens zum Teil mit guten Ueberlieferungen vertraut war. Da hier nicht textgeschichtliche Fragen ausführlich behandelt werden können, soll hervorgehoben werden, daß die restlichen Sprüche eindeutig gnostisches Milieu erkennen lassen. Hier handelt es sich wieder um solche Logien, deren Elemente zwar aus den kanonischen Evangelien bekannt sind, hier aber gnostisch uminterpretiert wurden, oder um Sprüche, die als ganze vollkommen neu sind und einen gnostischen Charakter erkennen lassen. Als deutliches Beispiel dafür sei der hundertvierzehnte, also der letzte Spruch erwähnt:

„Simon Petrus sagte

zu ihnen: Mariham (Maria Magdalena) möge

von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.

Jesus sagte: Siehe, ich werde sie führen, damit ich sie männlich mache, daß auch sie zu einem lebendigen Geist wird, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, wenn

sie sich

männlich macht, wird in das Reich der Himmel eingehen.“

Diesem Spruch dürfte wohl das gnostische Motiv zugrunde liegen, daß das Weibliche als Träger der Fortpflanzung die Bindung an die äußere materielle Welt bedeutet, aus welcher sich der Geist, das Pneuma, zu befreien habe. Der gnostische Jesus hier weist das Argument des Simon Petrus nicht zurück, daß Maria (Magdalena) als Frau des Lebens unwürdig sei. Eine solche Haltung wäre sowohl beim historischen Jesus als auch beim Petrus des Neuen Testaments undenkbar.

Aus all dem geht hervor, daß der Jesus des Thomasevangeliums nicht der Christus der kanonischen Evangelien, der durch Seine Leiden und Seine Auferstehung das Heil gebracht hat, sondern der gnostische Wegweiser ist, der dem Einzelnen die Möglichkeit geben soll, aus den durch die kosmischen Archonten bewirkten Betäubungen zu erwachen, die Bindung an diese Welt des Bösen, des Fleisches, der Materie und des Schicksalszwanges aufzulösen, um als Geist durch alle Sphären aufzusteigen und endlich in das Lichtreich zu seinem göttlichen Ursprung zurückzukehren. Aus diesem Grunde bedeutet im Logion 114 „Das Reich der Himmel“ nicht das eschatologische Gottesreich, wie in den kanonischen Evangelien, sondern das Lichtreich des Gnostikers.

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