Lukas- und Matthäus-Evangelium erzählen nur wenig über die Geburt Jesu. Umso detailreicher äußern sich dagegen außerbiblische Geschichten.
Eigentlich berichten die biblischen Erzählungen aus dem Matthäus- und dem Lukas-Evangelium nur sehr wenig über die Ereignisse um die Geburt Jesu. Dies war offensichtlich auch bald den Christen bewusst, und so entstand – wohl aus verschiedenen mündlich überlieferten Legenden – wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts ein Text mit dem Namen „Geburt der Maria“, der auch unter dem Namen „Protevangelium des Jakobus“ bekannt geworden ist.
Jakobus, welcher gemäß der literarischen Fiktion des Werkes dieses verfasst haben soll, ist nach den abschließenden Zeilen der Erzählung ein Sohn Josefs aus erster Ehe, ein Halbbruder Jesu. „Ich aber, Jakobus, welcher diese Erzählung niedergeschrieben hat, ging in die Wüste, als in Jerusalem beim Tod des Herodes Aufstände stattfanden, bis sich der Aufruhr in Jerusalem wieder beruhigt hatte.“ Hier nimmt der Text die biblischen Erwähnungen des Herrenbruders Jakobus auf und verbindet sie mit der sich entwickelnden Vorstellung einer dauerhaften Jungfräulichkeit der Mutter Jesu, indem er aus dem Bruder einen Halbbruder macht. Dass es sich beim Verfasser nicht um den Herrenbruder Jakobus gehandelt haben kann, ist an der fehlenden Ortskenntnis und einer fehlenden Vertrautheit mit jüdischen Sitten zu erkennen.
Nicht biblisch: Anna und Joachim
Dies hinderte jedoch nicht, dass der Text mit den in ihm enthaltenen Berichten sowohl die Volksfrömmigkeit als auch die bildende Kunst über viele Jahrhunderte geprägt hat. Bereits die zahlreichen Übersetzungen sind Zeichen der Beliebtheit; aus der Alten Kirche sind neben einer griechischen Version, syrische, georgisch lateinische, arabische, armenische, koptische und äthiopische Übersetzungen bekannt. Die Beliebtheit der Texte zeigt sich zum Beispiel daran, dass Martin Luther unter Anrufung der heiligen Anna ins Kloster eingetreten war. Die Namen der Eltern von Maria werden in den biblischen Texten nicht erwähnt, das Protevangelium des Jakobus gibt als erstes die Namen der Eltern der Maria mit Joachim und Anna an. Später wandte Martin Luther sich gegen derartige Legenden indem er sie pauschal als „Lügenden“ bezeichnete. In dieser Zeit führte die auch in der katholischen Kirche vorhandene Skepsis gegenüber diesen Überlieferungen dazu, dass unter Pius V. im Jahr 1568 das Fest Joachims, des Vaters der Maria, abgeschafft wurde.
Widerstand regte sich schon im 4. und 5. Jahrhundert: So war Hieronymus ein bekannter und eifriger Polemiker gegen derartige Texte. Nachdem auch Päpste wie Damasus und Innozenz I. gegen das Protevangelium anzukämpfen versuchten und die unter dem Namen des Papstes Gelasius umlaufende Liste der als apokryph verurteilten Bücher auch dieses Kindheits-Evangelium erwähnt, kam zwar das Protevangelium des Jakobus im Westen aus der Mode, seine Inhalte wurden jedoch weiter verbreitet.
Fromme Neugier befriedigt
Man brauchte einfach einen anderen Garanten für diese Überlieferung, und so findet sich am Anfang des Kindheits-Evangeliums des Pseudo-Matthäus, welches das Protevangelium des Jakobus als Quelle verwendet, ein fiktiver Briefwechsel zwischen zwei italienischen Bischöfen und Hieronymus. Nach diesem Briefwechsel lässt Hieronymus eine Übersetzung der im Heiligen Land aufbewahrten und auf hebräisch abgefassten umfangreichen Erzählung des Matthäus anfertigen, um im Umlauf befindlichen falschen Berichten etwas entgegenzusetzen. Angesichts der erwähnten kritischen Haltung des Hieronymus ein höchst dreistes Unterfangen, das einmal mehr dafür Zeugnis ist, wie beliebt diese Berichte waren und wie sehr sie in der Lage waren, fromme Neugier zu befriedigen. Die Zuschreibung an Matthäus sicherte dann diesem Text, dessen Entstehungszeit nicht mehr genau festzustellen ist, der jedoch wahrscheinlich im 8. Jahrhundert entstand, eine weite Verbreitung und intensiven Gebrauch im Mittelalter.
Nach dem Matthäus-Evangelium kamen Weise aus dem Morgenland nach Bethlehem. „Als sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter.“ (Mt 2,10-11a) Der Bericht des Lukas-Evangeliums ist bezüglich der genauen Umstände und Lokalität der Geburt Jesu sehr zurückhaltend. „Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ (Lk 2,6-7) Während Jesus nach dem Bericht des Matthäus-Evangeliums in „einem Haus“ geboren wurde, kann man aus der Erzählung des Lukas-Evangeliums schließen, dass Jesus in einem Stall geboren wurde, der zu einer Herberge gehörte. Der Bericht des Protevangeliums des Jakobus hingegen erwähnt eine Höhle — und ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, dass diese Höhle als Ort der Geburt zahlreiche Künstler beflügelt hat, während Ochs und Esel an der Krippe, die in keiner bildlichen Darstellung fehlen dürfen, in dem bereits erwähnten Kindheitsbericht des Pseudo-Matthäus zu finden sind.
Hier dürften sich Kunst und Legendenbildung gegenseitig befruchtet haben, finden sich doch bereits ab dem 4. Jahrhundert Darstellungen des in der Krippe liegenden Kindes mit diesen beiden Tieren. Die Aufnahme dieses Motivs in einen weit verbreiteten Kindheitsbericht wirkte dann positiv auf die Verbreitung derartiger Darstellungen.
Jesu Geburt: Stall oder Höhle?
Der unter dem Namen des Matthäus schreibende unbekannte Verfasser hatte jedoch die Unvereinbarkeit der biblischen Erzählungen von der Geburt Jesu in einem Stall mit der Behauptung, dass Jesus in einer Höhle geboren worden war, erkannt. Seine Lösung des Problems darf als pragmatisch bezeichnet werden. Nach seiner Erzählung „ging die seligste Maria am dritten Tag nach der Geburt unseres Herr Jesus Christus aus der Höhle hinaus, sie trat in einen Stall und legte ihren Sohn in eine Krippe und Ochs und Esel beteten ihn an.“
Die in den Texten des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums vorausgesetzte Jungfräulichkeit der Maria war im 2. Jahrhundert nicht unumstritten. Mit diesem Streit beschäftigt sich die Erzählung von Salome, die sich im Protevangelium des Jakobus findet. Während der Geburt Jesu ist dem dort erhaltenen Bericht zufolge eine namentlich nicht genannte Hebamme anwesend, welche Augenzeugin der jungfräulichen Geburt wird. Nachdem sie die Höhle verlassen hat, begegnet ihr auf dem Weg eine Frau namens Salome, der sie von der jungfräulichen Geburt erzählt. Diese antwortet unter Anlehnung an die im Johannes-Evangelium berichtete Szene mit dem ungläubigen Thomas: „So wahr der Herr, mein Gott, lebt: Wenn ich meinen Finger nicht dorthin lege und sie untersuche, glaube ich nicht, dass eine Jungfrau geboren hat.“
Salome geht nun in die Höhle, „legt Maria bereit“ – modern würde man dies wohl als Vorbereitung einer gynäkologischen Untersuchung bezeichnen – und beginnt die Untersuchung, die sie jedoch fast sofort mit einem Aufschrei beendet, denn ihr fällt die Hand ab, mit der sie die Untersuchung vorgenommen hatte. Sie erkennt, dass sie in ihrem Unglauben zu weit gegangen ist und betet voll Reue. Ein Engel erscheint und fordert die ehemals ungläubige Salome auf, das Kind in ihre Arme zu nehmen. Die Berührung mit dem Neugeborenen führt zur Heilung und Wiederherstellung ihrer Hand.
Die außerbiblischen Texte verbinden also volkstümliche Überlieferungen mit theologischen Anliegen, was ihre Verbreitung über viele Jahrhunderte erklärt. Reformation und Aufklärung drängten diese Überlieferungen endgültig an den Rand, auch wenn manche Elemente, wie die Höhle oder die Namen der Eltern der Maria bis heute weiterleben.
* Der Autor, Kirchenhistoriker, forscht – vom Wissenschaftsfonds gefördert – an der Papyrussammlung der Österr. Nationalbibliothek