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Auf der Suche nach der Wahrheit

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„Wahrheit und Geschichte“ war das Gesamtthema des 3. Europäischen Theologenkongresses, zu dem annähernd 300 Teilnehmer aus Ost und West, Katholiken und Protestanten, nach Wien kamen. Das Vorbereitungskomitee unter Vorsitz des Dekans Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Dantine, schlug das Thema vor, das sich sehr bald (sowohl in den kritischen als auch in den zustimmenden Äußerungen) als sehr gewichtig erwies, nicht nur für den Kongreß, sondern auch für die Theologie der Gegenwart. Die Eröffnung nahm Minister Dr. Hertha Firnberg vor. Die Suche nach der Wahrheit, nach dem wahrhaft Gültigen und Bestimmenden,“ für das Zusammenleben der Menschen und auch für das Leben des Einzelnen“, betonte sie, „sei heute zu einer alle Wissenschaftsdisziplinen umfassenden Frage geworden.

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„Wahrheit und Geschichte“ war das Gesamtthema des 3. Europäischen Theologenkongresses, zu dem annähernd 300 Teilnehmer aus Ost und West, Katholiken und Protestanten, nach Wien kamen. Das Vorbereitungskomitee unter Vorsitz des Dekans Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Dantine, schlug das Thema vor, das sich sehr bald (sowohl in den kritischen als auch in den zustimmenden Äußerungen) als sehr gewichtig erwies, nicht nur für den Kongreß, sondern auch für die Theologie der Gegenwart. Die Eröffnung nahm Minister Dr. Hertha Firnberg vor. Die Suche nach der Wahrheit, nach dem wahrhaft Gültigen und Bestimmenden,“ für das Zusammenleben der Menschen und auch für das Leben des Einzelnen“, betonte sie, „sei heute zu einer alle Wissenschaftsdisziplinen umfassenden Frage geworden.

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Was ist Wahrheit? fragte schon vor 2000 Jahren Pilatus. Wir fragen noch immer. Ernst Tröltsch hat vor mehr als 50 Jahren den Absolutheits-anspruch des Christentums betont. Seitdem stellt sich, besonders durch die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang des Wahrheitsanspruches der christlichen Botschaft und der Verwirklichung in der christlichen und kirchlichen Praxis. Dabei ist es selbstverständlich, daß christliche und kirchliche Praxis identisch sind, wenn sich auch die Personenkreise überschneiden.

Das Zentralthema unterstrich das Anliegen des Kongresses, die Vermittlung theologisch-wissenschaftlicher Arbeit mit kirchlicher Praxis zu verbinden. Besonders kam dies auch bei Peter Hojen, Professor für systematische Theologie in Kopenhagen, zum Ausdruck. Es geht um die Fragen: Wie verhält sich die Theologie zur Kirche? Wie steht es um die theologische Ausbildung und das Selbstverständnis der Kirche? Wie setzt man Glaubensüberzeugung in das praktische, sittliche und gesellschaftliche Handeln um? Man könnte diese Fragen auf den Nenner „Christus befreit und eint“, das Thema von Nairobi, bringen. Das bedeutet nichts anderes als: Christus, das heißt „Wahrheit und Geschichte“, befreit, das heißt: das aus dem Glauben kommende praktische Handeln, und „eint“, das heißt: die Kirche ver-das Wort. Das erfreuliche Ergebnis lautet also: Die theologische Wissenschaft weiß sich mit der Kirche verbunden, sie steht nicht neben oder außer dieser.

Im umfassenden Sinn ist Wahrheit der Name für die höchste Leistung jenes Wissens, das in Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit der Welt zu gelangen sucht. Das Bemühen des Menschen, in einem nie endenden Erkenntnis- und Wissensprozeß die Wirklichkeit zu bewältigen und sich diese dann anzueignen, gibt der Wahrheit ihre Geschichte.

Theologisch gesehen, trifft man auf das Phänomen, dem man mit einem zugleich spezifischen als auch universalen Wahrheitsverständnis und -anspruch begegnet. Das biblische Phänomen ist ein vielfältiger, indirekter, aber auch widersprüchlicher Hinweis auf Gott als einem „Du“ und „Er“. Dieses „Du“ und „Er“ zeigt sich als jene Wirklichkeit, die die formale Unendlichkeit des Universums im Bewußtsein des Menschen als Zukunft und Geschichte aufzeigt und es so wirklich macht. Die Entstehung der Wahrheit des biblischen Phänomens und des Zusammenhanges historischer und wissenschaftlicher Erfahrung ist das Geschäft der Theologie. Drei Fragen müssen beantwortet werden: Was geht uns Wahrheit an? Was- sagen Bibel und christliche Tradition über Wahrheit? Inwiefern ist das Evangelium wahr oder gar die Wahrheit?

Geschichte ist die Summe der Veränderungen in dem Dasein der menschlichen Gesellschaft. Sie ist die Wissenschaft, welche die Tatsachen der Entwicklung der Menschen in ihren Betätigungen als soziale Wesen im kausalen Zusammenhang erforscht und darstellt. Glaube und Wirklichkeit sind ein Problem des modernen Menschen. Seine Gegenwartserfahrung läßt sich manchmal nur schwer mit überlieferten Glaubensvorstellungen verbinden. Unter dem zentralen Gedanken der Offenbarung sollen der Geschichte Wege gewiesen werden, die getrennten Bereiche „Wirklichkeit“ und „Glaube“ wieder zu verbinden. Hat die Wirklichkeit unseres Lebens etwas mit Gott zu tun? Auf diese Frage versuchte der Professor für Systematische Theologie Wolfhart Pannenberg aus München zu antworten. Er betonte, daß in der neuesten theologischen Diskussion der Trinitätslehre es um die Aufgabe gehe, durch Rückbesinnung auf diese das christliche Gottesverständnis überhaupt neu zu formulieren gegenüber den teilweise nicht unberechtigten Angriffen des Atheismus auf die traditionelle Gottesvorstellung. „Der tri-nitarische Gott ist zugleich jenseitig und mitten in unserem Leben gegenwärtig. Durch die Unterscheidung der trinitarischen Personen erkennt das christliche Gottesverständnis die Leiden der Geschichte als in Gott aufgehoben und erkennt so den Gott Jesu Christi als die Wahrheit der Geschichte.“

Der katholische Theologe aus Leipzig Wolfgang Trilling bemühte sich in seinem Vortrag über „Die Wahrheit von Jesu-Worten in der Interpretation neutestamentlicher Autoren“, nachzuweisen, daß sämtliche Schriften des Neuen Testaments als „Antwort auf die Rede Jesu“ verstanden werden können. Nach der Meinung der neutestamentlichen Autoren komme in diesen die Wahrheit Gottes schlechthin zur Sprache. Die Rede Jesu umfaßt sowohl die im Neuen Testament wiederholt zitierten Logien Jesu als auch sein Auftreten insgesamt, das Trilling vom Begriff der „Sprachhandlung“ her zu erfassen suchte. Das Neue Testament ist nach Trilling das Dokument einer Sprachgeschichte, in der die „Sprachhandlungen“ Jesu zur Wirkung kommen, rezipiert und gleichzeitig in Form tradierbarer Einzeltexte und -bücher so bewahrt werden, daß die Kirche von ihnen in eine Zukunft hinein leben kann, die unter dem Zeichen „Deus Semper maior“ steht.

Der Göttinger Professor für Neuere Geschichte Rudolf von Thadden bedauerte, daß das Phänomen und Problem der institutionellen Wirklichkeit in der Geschichte zu sehr vernachlässigt werde. Für ihn seien die in der neueren Geschichte zutage tretenden Institutionen, wie Staat, Bürokratie und Kirche, Vermitt-lungsinstanzen von Wahrheit und Wirklichkeit. Daraus folgerte er, nur die Institutionen, die in diesem Spannungsfeld bleiben, könnten ihrem geschichtlichen Auftrag gerecht werden. In der Kirche von heute werde leider die Realität und geschichtliche Funktion der Kirche als Institution weithin unterschätzt. Es gebe eine dreifache Fluchtbewegung: die Flucht vor der Realität in eine abstrakte Theologie ohne echten Wirklichkeitsbezug; die Flucht in eine kirchenblinde Welt und die Flucht in ein kirchenfreies Christentum. Die dritte Flucht erscheine allerdings die wirksamste und gegenwärtig aktuellste zu sein. Ihr könne man nur entgegenwirken, wenn sich die Kirche wieder als Institution mit begrenzter, aber sinnvoller Funktion im weiten Rahmen des Christentums selber begreift. Nur so könne sie zwischen der ihr eröffneten Wahrheit und der geschichtlichen Wirklichkeit unserer Zeit vermitteln.

„Wahrheit und Konsensus“ war das Thema des Systematikers aus Kopenhagen Peter Hojen, das er aus ökumenischer Perspektive behandelte. Dabei richtete er sein Hauptaugenmerk nicht auf die klassischen, römisch-katholischen Denkmodelle vom Konsensus, dem „consensus ecclesiae“, der vom kirchlichen Lehramt aus definiert und garantiert wird, sondern auf die verschiedenen Spielarten evangelischen Verständnisses von kirchlichem Konsens. Evangelischerseits kann ein Konsens an kirchlichen Bekenntnistraditionen orientiert sein. Er kann aber nur den Charakter einer Einmütigkeitserklärung haben. Bekenntnisse werden dann — nach Hojen — zur bloßen Leerformel, wenn sie nicht mehr zum aktuellen Bekennen in neuer geschichtlicher Situation anleiten können. Da dieser Zustand heute zum Teil bereits gegeben sei, plädierte der Referent dafür, die Wahrheit im konkurrierenden Mit- und Widereinander in jeweils zu formulierenden Konsensusformen immer wieder neu in Erscheinung treten zu lassen. In der Differenziertheit der heutigen Christenheit kann man nach Hojen nur davon ausgehen, daß die Wahrheit den Kirchen in der Person Jesu als Liebe vorgegeben ist. Diese Wahrheit erweist sich nur in der Praxis.

Wie Prof. Wilhelm Dantine in seinem Schlußwort betonte, war der Kongreß ergebnisreich. Die intensive theologische Arbeit über das Verhältnis von Wahrheit und Geschichte brachte eine Fülle weiterführender Aspekte. Die Schlußdiskussion habe gezeigt, daß die Mehrheit der Anwesenden dafür sei, die Betrachtung des Verhältnisses von Wahrheit und Geschichte, nicht in die Höhenlagen, sondern in die Tiefen der menschlichen Existenz zu führen.

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