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Die Welt verandern

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Der „atheistische Glaube an Gott“ ist derzeit int theologischen Sprachgebrauch zwar sehr beliebt, dennoch aber vielen Mißverständnissen ausgesetzt

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Der „atheistische Glaube an Gott“ ist derzeit int theologischen Sprachgebrauch zwar sehr beliebt, dennoch aber vielen Mißverständnissen ausgesetzt

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Dahinter kann sich etwa der Umstand verbergen, daß Kirchen und Theologen ihre Felle wegschwimmen sehen und sich deshalb rasch an Modernität, Sprache und Gehaben des neuen Standards anpassen. Dabei kann es passieren, daß sie bei dieser Gelegenheit ihre Glaubensinhalte verlieren, worüber man sich aber leicht hinwegtäuschen kann, wenn man nur das neue Mächtige mit dem Namen der sterbenden Ohnmacht belegt.

Dahinter kann aber auch die Bereitschaft des Glaubens stehen, sich aufzuklären (oder aufklären zu lassen) und — mit Solle — auf eine alte „theistische Metaphysik“ zu verzichten, falls mit ihr auch eine Praxis naturrechtlicher Versteinerung bestehender Gesellschaftszustände notwendig verbunden wäre. Das Büchlein „Atheistisch an Gott glauben“ vereinigt neun Aufsätze: Zu einem Teil eindrucksvolle dichterische oder interpretierende Betrachtungen, zum anderen aber theologische Essays mit verbindlicherem Anspruch. Sölles These ist kurz diese:

1. Wäre das Christentum bloße Lehre (fides quae creditur) über „metaphysische“ (das ist bei Solle überweltliche) Gegenstände oder lange vergangene Geschichten, wie sollte man je und besonders heute aus ihm leben können?

2. Wäre der Glaube aber auch nichts anderes als die unmittelbare Betroffenheit, das große Paradoxon isolierter Individuen, das unsagbare Geheimnis existentiellen Aufrufs (fides qua creditur), wie sollten wir dann noch wissen können, was wir tun, wie ein inhaltliches Glaubensbekenntnis sprechen?

3. Mit der Menschwerdung Jesu ist es endgültig aus mit der „metaphysischen“ Jenseitigkeit Gottes, zu Ende mit dem „Gottespositivismus“. Seither löst sich Religion in Ethik auf, weil Christentum „Existenzbewegung“ ist, die immer unter dem Anspruch einer „Apokalyptik“ (das ist desÄnderns der Verhältnisse) stehen muß. Dabei sind die Fragen der Religion nicht durch neue Mythologien (wie etwa von der klassenlosen Gesellschaft) zu erledigen, vielmehr bleibt die Transzendenzoffenheit des Menschseins bestehen, weil das Gute dieser Ethik (das ist die absolute Verwirklichung aller Möglichkeiten Gottes und des Menschen zusammen) nie zu Ende gekommen sein wird, solange es Freiheit gibt.

Solle sieht ihren Standort in der gegenwärtigen Diskussion etwa so:Die heutige (evangelische) Theologie steht einerseits immer noch im Banne des zwar gewalttätigen, aber undifferenzierten Affekts gegen die Wissenschaft von Gott (Kierkegaard und Nietzsche gegen Kant und Hegel) und ist anderseits weitgehend dem Einfluß Heideggers unterworfen, dessen Seinsgeschick sich fürs erste leicht ins Theologische wenden läßt. Aber sich in dieser Situation mit der Flucht ins Geheimnis (Barth) oder der Betroffenheit der individuellen Existenz (Bultmann) zufriedenzugeben, wäre nur das Beharren des unglücklichen Bewußtseins, das sich vor jeder Aufklärung ins Ereignis, Christusgeschehen, Geschichtliche zurückzieht. Daher muß die Theologie mit ihren Fragen wieder zu den ausgeprägtesten Trägem der The-logie und Philosophie in der Neuzeit zurück: zu Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Die größte Rolle spielt dabei die Hegeische Religionsphilo-sophie, aus der Solle die Stellen vom „spekulativen Karfreitag“ und vom „unendlichen Schmerz über den Tod Gottes“ interpretierend herausgreift (ohne jedoch auf die entscheidende Differenz zwischen Religion als Vorstellung und Philosophie als Wissen ein und derselben Wahrheit zu sprechen zu kommen). Hinzu kommt das soziale und gesellschaftliche Pathos in' der Marxschen Forderung, die Welt nicht nur zu Interpretieren, sondern zu verändern, weil die Vernunft sich jederzeit auch über ihr Engagement (etwa in Vietnam oder Biafra) befragen müsse, wenn sie nicht reaktionär werden wolle (92).

Es sei noch gestattet, zwei Fragen herauszugreifen, die erste den Begriff der Metaphysik, die zweite den der Kirche betreffend:

1. Ist es so einfach „Metaphysik“ auf die Lehre vom Inventar des Jenseits zu beschränken? Wurde Gott jemals so dumm-metaphysisch verstanden (geschweige denn geglaubt), wie es angeblich der Theismus tat? (Wird hier nicht dem ohnehin schon problematischen Vorwurf Heideggers an die Philosophie vor ihm, sie sei seinsvergessen gewesen, die positivistische Aggression gegen jeden nicht-naturwissenschaftlichen Realitätsbegriff unterlegt?) Sollten wirklich die Menschen bis ins 19. oder 20. Jahrhundert am „Opium einer theistischen Ideologie zehrend“ bloß Vorgeschichte gespielt haben? Ist hier nicht möglicherweise die Korruption des beamteten Christentums und dessen konservatives Interesse zu einer bestimmten Zeit mit „Metaphysik“ allzu rasch gleichgesetzt? Wenn „atheistisch“ heißen soll „nicht-jenseitsabgöttisch“, wer maßt sich das Urteil an, zu sagen, eine Epoche sei nicht „atheistisch“ gewesen? Ist es wirklich erkenntnis-oder glaubensvertiefend, wenn man jede vernünftige Theorie über den Theos atheistisch nennt? Es kann keine Alternative sein („metaphysisch“), vom Wesen und (mit der neuen Theologie) von den Wandlungen Gottes zu sprechen. 2. Obwohl es Solle vermeidet, von Kirche zu sprechen, steht diese doch immer im Hintergrund, denn zum Beispiel: Die „Theologie nach dem Tode Gottes“ wird Christologie als Anthropologie betrieben... und „in den leer gewordenen Gesichtern atheistischer Angestellter die Zöllnerfreunde Jesu wiedererkennen und deren Verborgenheit als ihre unge-lebten.... von der Gesellschaft nicht gefragten Möglichkeiten ansehen“. (75) Theologie wird also gesellschaftskritische Instanz sein. Ist dabei der Rückbezug auf Jesus für die Realisierung dieser noch verborgenen Möglichkeiten erforderlich? Ist er notwendig für das Selbstbewußtsein dieser Zöllnerfreunde? Oder ist es bloß die Theologie, die Kirche, die diesen Bezug herstellt? Ist dieser Bezug notwendig — ist auch Kirche notwendig (gesellschaftskritisch mit eschatologischem Vorbehalt — wie Metz dann konsequent hinzufügt), ist er aber rein literarisch-historisch, was dann? Im ersten Fall wäre die Kirche diejenige, die um diesen heilsnotwendigen Zusammenhang mit Jesus weiß, ohne daß der, dessen Heil von der Verbindung mit Jesus abhängt, es weiß oder wissen will; im zweiten Fall ist die Kirche ein zufällig heute noch sehr einflußreiches bibelkritisches Institut. Ist das die Alternative?

ATHEISTISCH AN GOTT GLAUBEN. Beiträge zur Theologie. Von Dorothea Solle. Walter-Verlag, Freiburg/Br., 1968. 125 Seiten. DM 9.80.

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