Aufruhr im Schatten der Kaaba

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Millionen Moslems pilgern derzeit zu den heiligen Stätten nach Medina und Mekka. Islamischen Fundamentalisten ist die "Kommerzialisierung und Entwürdigung" dieser Pilgerreisen ein Dorn im Auge.

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Millionen Moslems pilgern derzeit zu den heiligen Stätten nach Medina und Mekka. Islamischen Fundamentalisten ist die "Kommerzialisierung und Entwürdigung" dieser Pilgerreisen ein Dorn im Auge.

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Alle Jahre wieder zieht um diese Zeit die größte Pilgerkarawane der Erde nach Saudi-Arabien: Zwei bis drei Millionen Moslems sind auf der Wallfahrt zu den heiligsten Stätten des Islams. Doch die gespaltene Welt des Islams spiegelt sich auch in den Anschlägen und Massakern, die sich in Mekka und Medina ereigneten: 50.000 Gläubige hatten sich im "Haram", dem heiligen Bezirk der Moschee von Mekka versammelt, um den Beginn des 1.400. Jahres seit dem Entstehen des Islams zu feiern. Plötzlich drangen 300 bis 400 bewaffnete Männer in den Hof und forderten mit lauter Stimme, daß einer von ihnen, Mohammed Ibn Abdullah Al-Qahtani, zum Mahdi - dem von einigen islamischen Sekten erwarteten "Messias" - proklamiert werden sollte. Als der Imam dies ablehnte, kam es zu einer Schießerei. Sofort wurden die 26 Tore der Moschee geschlossen und Scharfschützen der Polizei auf den sieben Minaretten postiert. Die Belagerung der Kaaba, des größten Heiligtums des Islam, begann.

Was sich an diesem 20. November 1979 ereignete, schockierte die gesamte islamische Welt. Die zweiwöchige Belagerung erschütterte aber auch die Herrschaft der königlichen Saud-Familie. Denn die "Rebellen", religiöse Fanatiker, die den Islam von Korruption und Modernisierungseifer der saudischen Regierung "reinigen" wollten, waren in ihrer Mehrheit Staatsbürger Saudi-Arabiens. Fernsehen, Fußball und höhere Erziehung der Frauen sollten verboten werden. Außerdem forderten sie ein Verbot für Schiiten, die Kaaba zu betreten.

Obwohl sich die Rebellen im unterirdischen Labyrinth der Moschee verschanzt hatten, wurden sie schließlich überwältigt. Ihr "Messias" starb im Kampf, 63 seiner Anhänger wurden später enthauptet.

In den folgenden Jahren kam der wachsende Widerstand gegen die Saud-Familie als "Hüter der heiligen Stätten" von Mekka und Medina von der anderen Seite des Persisch-Arabischen Golfes, wo die Mullahs ihre Herrschaft im Iran gefestigt hatten. Während der Pilger-Saison 1987 marschierten Tausende iranische Schiiten mit Bildern des Ayatollah Khomeini zur Großen Moscheee von Mekka. Beim Zusammenstoß mit der Polizei kam es zur ersten Straßenschlacht in der heiligen Stadt. Sie forderte 402 Tote, davon 275 Iraner, 42 andere Pilger und 85 saudische Polizisten. Über 700 wurden teils schwer verletzt. Der Ruf nach Vergeltung und die Haßtiraden aus Teheran müssen den Saudis noch heute in den Ohren dröhnen.

Trotz Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen und Einsatz modernster Kontroll-Zentren kam es am 9. Juli 1989 zu einem Bombenattentat in der Nähe der Großen Moschee: Ein Toter und 16 Verletzte waren die Opfer. Auch von furchtbaren Katastrophen wurden die heiligen Stätten nicht verschont. Am 23. Mai 1994 starben bei einer Massenpanik im sogenannten "Tunnel" 270 Pilger. Schon 1990 war es zu einer ähnlichen Katastrophe gekommen; dabei wurden 1.426 Pilger zu Tode getrampelt. Immer wieder kommt es zu Flugzeugabstürzen, weil die Maschinen mit Pilgern überladen sind.

Während früher die Pilger hauptsächlich mit Schiffen nach Saudi-Arabien kamen, so sind es heute Flugzeuge, vor allem Charter-Maschinen. Die Airports des Landes sind auch für den Massen-Ansturm von Pilgern bestens vorbereitet. Aus Sicherheitsgründen werden ihnen die Pässe bei der Einreise abgenommen und Nummern ausgegeben. Auch soll verhindert werden, daß "Ungläubige" die heiligen Stätten betreten.

Kämmen und rasieren verboten Während früher viele Pilger auf der beschwerlichen und oft auch gefährlichen Anreise an Erschöpfung, aber auch an Cholera, Typhus und Malaria starben oder todkrank ihr Ziel erreichten, gibt es heute moderne Quarantäne-Stationen, mobile Kliniken, vor allem aber sauberes Trinkwasser und Toiletten, sowie eine gut organisierte Müllabfuhr. Wer es sich leisten kann, logiert in klimatisierten Hotels. Sofern beim Bau der Hotels und technischen Anlagen ausländische Fachkräfte eingesetzt wurden, mußten die Techniker ihre Anweisungen außerhalb des heiligen "Sperrgebietes" per TV, Radio oder Walkie-Talkie durchgeben.

Jeder Pilgergruppe wird ein Reiseführer zugeteilt, der die Paßformalitäten erledigt und für Transport und Unterkunft sorgt. Dann werden die Pilger mit dem besonderen Ritual der Wallfahrt vertraut gemacht. Jeder Pilger legt das Pilgergewand an: Männer erhalten zwei weiße Tücher, von denen eines um die Schulter, das andere um die Hüfte geschlungen wird. Als Fußbekleidung dienen Sandalen. Frauen tragen ein weißes Kleid und natürlich das Kopftuch. Diese Kleidung, die als Symbol der kultischen Reinheit und Gleichheit vor Gott gilt, wird bis zum Ende der Wallfahrt getragen.

Die Männer dürfen sich während der Wallfahrt nicht kämmen und rasieren, auch nicht die Nägel schneiden. Kein Pilger soll streiten, Geschlechtsverkehr ist verboten.

Grundsätzlich folgt die Pilgerreise den Spuren Mohammeds, das heißt, sie beginnt in Medina, wo sich die Wallfahrer rund zehn Tage aufhalten. Gebetet wird "rund um die Uhr". Höhepunkt der Pilgerreise ist allerdings der Besuch der Großen Moschee von Mekka, die vor mehr als 1.200 Jahren errichtet und mehrfach um- und ausgebaut wurde. Sie kann 500.000 Pilger fassen. Es wird berichtet, daß Pilger, überwältigt von religiösen Gefühlen, beim Anblick der Kaaba, dem würfelförmigen "Haus Gottes auf Erden", in Ekstase geraten, oder einfach sprachlos und sogar ohnmächtig werden. Entsprechend dem komplexen Ritual wandern Zehntausende von Pilgern, Gebete sprechend, siebenmal entgegen dem Uhrzeigersinn um die Kaaba. Wem es gelingt, sich durch das Gewühl der Massen durchzukämpfen, der berührt den "Schwarzen Stein", einen Meteoriten, der als "rechte Hand Gottes" verehrt wird.

Während der folgenden Tage kommen die Pilger immer wieder zurück zum heiligen Bezirk der Kaaba, meditieren, essen, schlafen vielleicht auch dort und beobachten das lebhafte Treiben der Gläubigen, die aus allen Ländern zwischen dem Atlantik und dem Chinesischen Meer hier zusammengeströmt sind. Am achten Tag zieht die riesige Pilgergemeinde zum Berg Arafat. Hunderttausende verharren von Mittag bis zum Sonnenuntergang barhäuptig, oft bei 40 Grad Hitze, am Fuße des "Berges der Barmherzigkeit", wo Mohammed 632 seine Abschiedspredigt hielt.

In jeder Pilgersaison werden 70.000 Kühe, Kamele und Schafe als Opfertiere geschlachtet, genauer gesagt - geschächtet. Das Fleisch wird an die Armen verteilt, heute wegen der riesigen Fleischmenge eingefroren und teilweise in islamische Länder mit großer Armut geliefert. Zur gleichen Zeit, vom zehnten bis zum dreizehnten Tag des Wallfahrtsmonats, begehen auch alle Moslems, die nicht an der Pilgerfahrt teilnehmen können, zu Hause das große Opferfest.

Weitere Wallfahrtsstätten sind die Gräber Mohammeds, auch jenes seiner ersten Frau auf dem Friedhof Al-Mala, und natürlich die Grabmoschee des Propheten in der heiligen Stadt Medina.

Daß die Unterbringung von zwei bis drei Millionen Pilgern, die teilweise in Zelten oder auf dem Gebetsteppich im Freien schlafen, ebenso organisatorisch bewältigt werden muß wie der Verkehr Tausender Autos, Autobusse, Lastkraftwagen, Kamele und Esel, liegt auf der Hand. Für die Verkehrsüberwachung werden Hubschrauber eingesetzt, auch für Ambulanzflüge. Hunderte Pilger brechen durch Hitze, Lärm, Überanstrengung und Umweltverschmutzung zusammen und müssen in Kliniken eingeliefert werden.

Christentum im Keim erstickt Islamischen Fundamentalisten ist die Kommerzialisierung, der ungeheure technische Aufwand, die relativ mühelose Art, wie man heute "Hadsch" werden kann, schon längst ein Dorn im Auge. Sie fordern die Wallfahrer auf, wieder mehr Strapazen, mehr Opfer und Mühen auf sich zu nehmen. Die Pilger sollen zur Askese, zur Verinnerlichung und Einfachheit zurückkehren. Mehr und mehr Moslems sind der Auffassung, daß das vom "Schwarzen Gold" geblendete Saudi-Arabien, dessen Erde seit dem Golfkrieg von den Soldaten der Ungläubigen, sprich Amerikaner, "beschmutzt" wird, nicht mehr würdig sei, Hüter der heiligsten Stätten des Islams zu sein.

Aus dem Westen häufen sich die Klagen über massive Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien. Das islamische Recht, die Scharia, ermöglicht unmenschliche Strafen, wie das Abhacken der Hände bei Diebstahl, das Enthaupten von Drogen-Dealern, das Steinigen von Frauen (nicht von Männern!) bei Ehebruch. Dazu gehören auch öffentliche Hinrichtungen von "Religionsfeinden". Bis heute ist in Saudi-Arabien die Ausübung jeder anderen Religion als der des sunnitischen Islams aufs strengste verboten. Spitzel der allgegenwärtigen Religionspolizei, der "Metowah", versuchen kontinuierlich, jede christliche Aktivität, auch im privaten Rahmen, im Keim zu ersticken.

Opfer dieses Terrors sind oft genug Menschen aus asiatischen Ländern, die als Billigarbeiter nach Saudi-Arabien geholt werden. Im Vorjahr mußten zwei philippinische Arbeiter, Ruel Janda und Arnel Beltran, ihr aktives Bekenntnis zum christlichen Glauben mit dem Leben bezahlen. Sie wurden unter dem Vorwand krimineller Handlungen gefoltert und am 4. Mai 1997 durch das Schwert enthauptet.

Während der Weltpolizist USA den Irak mit Bomben und Blockaden bestraft, vermißt man aus Washington Proteste gegen die Verfolgung von Regimekritikern und "Ungläubigen".

Der Grund ist eindeutig: Die Saudi-Diktatur steht voll im amerikanischen Lager und sitzt auf den größten Ölreserven der Erde.

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