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Unterwegs ins Mittelalter

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„Der heilige Koran verbietet“, sprach Mo'ammer el-Gaddafl, „daß ein Mann das Haar einer fremden Frau berührt.“ Also sind Damenfriseure, folgerte er messerscharf, wider das religiöse Gesetz des Islam. In Libyen, einem der reichsten und rückständigsten Länder der muselmanischen Welt, verlor soeben ein ganzer Berufsstand seine Existenzgrundlage. Diese Groteske ist die jüngste Station auf dem tragikomischen Rückweg der nordafrikanischen Erdöl- und Nomadenrepublik ins finsterste Mittelalter.

Der Prophet Mohammed machte es seinen Gläubigen schon immer schwer, mit einer sich ständig wandelnden Umwelt fertigzuwerden. Seine statischen und kaum auslegungsfähigen Religionsgesetze tragen die Hauptschuld an dem Ausbleiben des politischen, ökonomischen und sozialen Fortschritts in der arabischen Welt. Doch der Religionsstifter, der alle irdischen Genüsse zu schätzen wußte, würde vermutlich herzlich lachen über die Eulenspiegeleien seines iibyschen Jüngers. Zur gleichen Zeit, in der die als „Vatikan des Islam“ geltende Kairoer Universität „El-Ashar“ sich zu einer revolutionären religiösen Neuerung entschloß und den Frauen die Teilnahme am Freitaggebet erlaubte, schließt ein religiöser Eiferer von Inquisitorischem Zuschnitt die Damenfrisiersalons.

In Libyen, wo mehr als zwei Drittel der Bevölkerung wie zu Abrahams Zeit aus wandernden Beduinen mit Kamelherden und Zelten besteht, hat religiöse Schwärmerei Tradition. König Idris es-Senussi, der sich „el-Machdi“ (Reinkarnation des Propheten) nannte, kümmerte sich um Politik weniger als um Koranstudien. Dieser Religiosität verdankte er zu einem gewissen Teil seinen Sturz. Aber er kümmerte sich mehr um das Seelenheil als um die Gängelung seiner Untertanen. El-Gaddafi, der den König vertrieb, hält sich nicht an diese weise Selbstbeschränkung. Der Diktator mit dem Fanatikergesicht, der viele Wochenende im Beduinenzelt seines greisen Vaters in der Großen Syrte zu verbringen pflegt, hält sich für Abdel Nasser, Saladin den Prächtigen und Mohammed in einer Person. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Demontage sämtlicher lateinischer Verkehrs-, Straßen- und Firmenschilder. Für Ausländer, die nicht arabisch verstehen, sind Tripolis und Bengasi seitdem „böhmische Dörfer“.

Seit der Machtergreifung des ehrgeizigen Obristen herrscht striktes Alkoholverbot. Als nächstes enteignete und expatriierte el-Gaddafl die 35.000 teilweise in ihrer ehemaligen Kolonie Tripolitanien geborenen Italiener. Diese verloren nicht nur ihren gesamten Besitz, sondern mußten sich vor ihrer erzwungenen Ausreise auch noch den Tascheninhalt abnehmen lassen. Die meisten von ihnen waren durchaus keine Großkapitalisten, sondern kleine Pflanzer und Ladenbesitzer. Das Land hatte ihnen unendlich viel zu verdanken. Heute sind ihre Pflanzungen verkommen und ihre Geschäfte geschlossen. Doch die Prophetenkarikatur aus dem Beduinenzelt kümerte sich nicht - um die wirtschaftlichen Folgen. Kürzlich reaktivierte el-Gaddafi eine nur noch in Saudi-Arabien gültige Gesetzesvorschrift der islamischen „Scharia“. Dieben hackt man in Libyen neuerdings wieder die Hand ab. Da gesetzliche Ausführungs-bestimmungcn noch fehlen, weiß niemand, ob solche Urteile von amtlich bestallten Scharfrichtern oder, wie in Saudi-Arabien, von approbierten Ärzten mit vorheriger Narkose vollstreckt werden. Ein Gesetz, wonach Ärzte Frauen nicht mehr untersuchen dürfen oder wonach Homosexuelle vom Dach ihres Hauses in den Tod gestürzt werden sollen, dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Da es in Libyen Ärztinnen so gut wie überhaupt nicht gibt, wären viele ihrer Geschlechts-genossinnnen dann zu einem frühen Tod aus religiösem Eifer verurteilt.

Die Weltöffentlichkeit könnte über diese groteske Entwicklung, von der lediglich rund zwei Millionen Beduinen betroffen sind, zur Tagesordnung übergehen. Doch Oberst el-Gaddafl ist einer der reichsten Potentaten der Erde. Mit den Milliardengewinnen aus dem Erdölgeschäft schürt er die revolutionäre Unruhe in Afrika und Vorderasien. Mit seinen Geldzuwendungen halten sich die Palästinaguerrilleros über Wasser. Er unterstützt die Dhofar-rebellen und die Eritreapartisanen und hilft dem halb verrückten Negertyrannen von Uganda über die Runden. Diesem schickte er sogar ein militärisches Expeditionskorps, und den westlichen Fluggesellschaften sperrte er den Luftraum für Flüge nach und von Südafrika. Am liebsten würde er, wie er einmal sagte, zu Fuß nach Palästina marschieren und die muselmanische Erde vom jüdischen Joch befreien. Doch seine Barfüßerarmee ist die schlechteste der arabischen Welt, und zwei Drittel der von Frankreich gekauften „Mirage“ verrotten einsatzunfähig auf ihren Pisten.

Solcher Ehrgeiz kostet viel Geld, und der soziale Fortschritt im eigenen Land kommt dabei zu kurz. El-Gaddafi zwingt seine Soldateska gelegentlich mit entsicherter Pistole oder mit ungezielten Schüssen mitten in paradierende Lastwagenkonvois zu sinnlosen Höchstleistungen.

Makabrer Höhepunkt des immer rascheren Rückmarsches ins Mittelalter ist die politische Verfolgung Toter. Italiens Luftmarschall Italo Balbo und sechs seiner Offiziere mußten jetzt auf Geheiß der Tripo-litaner Behörden ausgegraben und in ihrer Heimat erneut beerdigt werden. Es ist durchaus nicht auszuschließen, daß el-Gaddafl auch die anderen in libyscher Erde ruhenden Europäer noch zu unerwünschten Ausländern erklärt und ihre Leichname „ausweist“.

Allah hat einen großen Tiergarten. Doch Journalisten, die es wagten, auf die für“ Psychiater leicht erkennbaren Anzeichen einer Geisteskrankheit bei dem exzentrischen Militärdiktator hinzuweisen, wurden noch stets durch empörte Briefe ihrer Botschaften in Tripolis zurechtgewiesen. Die Diplomaten kennen die auf dem Erdölreichtum seines Landes beruhende Macht el-Gaddafis. Und folglich bleibt er verrückt nur für „Dummköpfe und Zeitungsschmierer“...

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