Gaddafis Volk ist müde

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In die Hoffnung vieler Libyer auf ein rasches Ende der Isolation ihres Landes mischt sich die Sorge, ihr "Bruder Führer" Muammar al-Gaddafi könnte vom Ende der Sanktionen am meisten profitieren.

Die offiziellen Presseorgane in Libyen schwelgen im Lob, mit dem westliche Politiker den einstigen internationalen Buhmann, Oberst Muammar al-Gaddafi, überhäufen. Die Tageszeitung Shams nennt die Entscheidung des "Bruder-Führers", auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten, einen "neuen Sieg der libyschen Diplomatie". Jumhuriya schreibt von einer "Kriegserklärung gegen die Diplomatie des Todes".

Und auch im Privatgespräch stimmt so mancher Libyer in den Beifall ein: "Ein großer Moment für unser Land", frohlockt der Student Ahmad Bischari. "Es liegt im höchsten Interesse Libyens, sich dieser schrecklichen Waffen zu entledigen. Sie sind teuer und unser Land muss sich auf die ökonomische Entwicklung konzentrieren." In Bisharis Jubel mischt sich Bitterkeit: "Unser Führer wurde so lange vom Westen missverstanden. Nun beweist er, dass er pragmatisch sein kann, ein wahrer Führer, der entschlossen ist, seinen Teil zum Weltfrieden zu leisten." Dass er und seine Mitbürger fest auf die Früchte dieses neuen Pragmatismus hoffen, verbirgt Bischari nicht. "Alle werden gewinnen", lautet die offizielle Linie, und man baut darauf, dass Washington endlich seine 1986 verhängten Sanktionen aufhebt.

Schlauer als Saddam

"Lasst uns die Vergangenheit vergessen", bemerkt ein libyscher Geschäftsmann, der sich nur mit seinem Vornamen - Mohammed - identifizieren will. Die Spione sind im Reiche des Oberst allgegenwärtig, und dass Telefone eifrig abgehört werden, davon sind viele überzeugt. Dennoch wagen in dem seit 35 Jahren diktatorisch regiertem Land heute mehr Menschen denn je, ihre Unzufriedenheit über Lebensumstände und Politik - wenn schon nicht über den Diktator - zu äußern, freilich hinter vorgehaltener Hand.

Viele Libyer reagieren nach dem überraschenden Kurswechsel Gaddafis jedoch auch verwirrt, apathisch oder gar zynisch. "Besaßen wir überhaupt ein international geächtetes Waffenprogramm? Wir verfügen doch gar nicht über die nötige Technologie", meint Ahmed, ein Zivilingenieur. Und ein libyscher Dissident glaubt an ein ausgeklügeltes Manöver des verhassten Diktators, um dem Schicksal Saddam Husseins zu entgehen und seine eigene Macht zu retten. Viele Libyer sind dennoch überzeugt, dass eine Kooperation mit den USA der einzige Weg ist, um ihr Land gegen einen Angriff zu schützen. "Die Amerikaner", fasst Mohammed eine weitverbreitete Ansicht zusammen, "haben die Mittel und die Macht, und sie werden nicht zögern, sie einzusetzen."

Ölreichtum verschleudert

Gaddafis Winkelzüge, seine unzähligen radikalen Kehrtwenden haben das Volk skeptisch gestimmt. "Man hat uns so viel versprochen. Was ist daraus geworden? Müssen wir ewig arm bleiben", klagt Ahmed und verhehlt seine Sorge nicht, dass sich für die Libyer durch den spektakulären Schritt des Führers nichts ändern könnte. "Das Regime müsste sich endlich den Nöten der Bevölkerung, den wachsenden sozialen Problemen zuwenden." Die Sanktionen haben den Libyern schwer zugesetzt: ökonomisch und moralisch. Man empfindet sie als tiefe Ungerechtigkeit, die ein unschuldiges Volk getroffen hat.

Zahlen für Lockerbie

"Das Volk besitzt die Macht, den Reichtum und die Waffen", ist auf einem Banner im Herzen der Hauptstadt Tripolis zu lesen. "Doch niemand hat uns gefragt, als sie die Pan-Am-Maschine über Lockerbie zur Explosion brachten und niemand hat mit uns über Wege diskutiert, wie wir aus dem Chaos der Politik unseres Führer herausfinden könnten", klagt ein Intellektueller. Die gigantischen Kompensationszahlungen an die Opfer von Lockerbie und anderer Terroranschläge - fast drei Milliarden Dollar -, haben die Libyer verbittert. "Welches Recht besitzt Gaddafi, uns derart unseren nationalen Reichtum vorzuenthalten", schimpft ein Ökonom. Die Jahrzehnte des Missmanagements, klagt er, hätten das reiche Land ins ökonomische Chaos gestürzt: "Der Schwarzmarkt blüht, die Inflation erreicht fast 30 Prozent, Hunderte Industriebetriebe liegen brach, Flughäfen und Häfen sind in desolatem Zustand, und insgesamt fehlt das Fundament für ein nachhaltiges ökonomisches Wachstum."

Während "Bruder Oberst" den Westen umwirbt und Europa sehnsüchtig seine Arme entgegenstreckt, ist es das Volk daheim, das ihm ernsthaft zu schaffen machen könnte. Seit sich Gaddafi 1969 an die Macht geputscht hatte, exportierte Libyen Öl für 250 Milliarden. Dollar - eine stattliche Summe für drei Millionen Libyer (genaue Zahlen kennt niemand). Doch die Infrastruktur des Landes liegt im Argen, in den Straßen von Tripolis und Benghazi stehen die Bettler. Unzählige Libyer nehmen Jobs als Hilfsarbeiter in Malta an, während 30 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung keine Beschäftigung findet.

Außenpolitische Abenteuer

Gaddafis Versuche, sich als Champion afrikanischer Einigung zu präsentieren, musste die libysche Bevölkerung ebenso teuer bezahlen, wie die vielen anderen außenpolitischen Abenteuer ihres exzentrischen Führers. Gaddafi öffnete für rund zwei Millionen afrikanische Migranten die Grenzen seines Reiches. Die Einwanderer haben praktisch das gesamte Baugewerbe und den Dienstleistungssektor an sich gerissen - zum großen Ärger vieler Einheimischer, die den Zuwanderern auch die Verantwortung für Wohnungsnot, Kriminalität und den Drogenmissbrauch zuschieben.

Der Diktator hat die Gefahren der wachsenden Unzufriedenheit erkannt. Zuerst von der arabischen Welt und nun von Afrika zurückgewiesen, sucht er nun die Zukunft seines Landes in Europa und den USA. "Damit trägt Gaddafi endlich einem tiefen Wunsch seines Volkes Rechnung", analysiert ein westlicher Diplomat in Tripolis. "Die Menschen sind der Abenteuer müde, sehr müde und sie prägt eine starke Sehnsucht nach Europa." Von dort erhoffen sie sich den nötigen Beistand, um den Entwicklungsrückstand rasch aufzuholen. "Wir wollen endlich ein ganz normales Land sein", meint ein libyscher Publizist.

Schluss mit Planwirtschaft

Zaghaft hat der Wandel in Gaddafis Paria-Staat jedoch schon eingesetzt. "Unsere Väter", meint ein junger Mann, "glaubten an all das Zeug von arabischer Einheit. Wir aber wollen, dass sich Libyen auf das Wohl der Libyer konzentriert. Die alten Ideen sind für uns gestorben. Sie haben uns nichts als Armut gebracht." Nach langem Zögern kehrt Gaddafi seinen einst so gehätschelten sozialistischen Ideen den Rücken. Die Planwirtschaft soll abgeschafft werden. "Volkskapitalismus" lautet das neue Motto. 6.500 Privatunternehmen soll es bereits in dem Land geben, in dem Gaddafi einst den Kleinhandel vollends abgeschafft hatte. Die Zeichen des Aufbruchs sind unverkennbar, nicht nur im Bereich der Wirtschaft.

Aber noch herrscht Gaddafi mit harter Hand über seinen Polizeistaat, in dem es kein Parlament gibt, keine politische Parteien, keine Nicht-Regierungs-Organisationen, in dem die Opposition fast vollends zerschlagen ist und in dessen Gefängnissen Tausende politische Häftlinge schmachten. Doch das Regime verspricht jetzt, die krasse Willkür der Volksgerichte zu überprüfen und jüngst wurden mehrmals Amnestien ausgesprochen.

Gaddafi-Junior als Reformer

Gaddafis Sohn Saif al Islam präsentiert sich unterdessen als Vorkämpfer politischer Reformen. Vor drei Monaten veröffentlichte er eine einzigartige Dokumentation über die Misshandlung von Gefangenen. Von der Außenwelt ignoriert, schlug dieses Dokument in Libyen wie eine Bombe ein. Gaddafi-Junior publizierte auch eine geheime Liste von 12.000 Libyern, denen die Ausreise aus dem Wüstenreich untersagt ist. Die Angelegenheit wird überprüft. So keimt die Hoffnung auf eine bessere Ära, auf ein wenig mehr Freiheit, auf neuen Wohlstand.

Doch nicht alle glauben den verheißungsvollen Zeichen: So mancher libysche Skeptiker befürchtet, der wirtschaftliche Aufschwung, der durch das erhoffte Ende der Isolation einsetzen könnte, wird Gaddafi und seiner autokratischen Herrschaft zu Gute kommen. Und je besser es den Libyern geht, "desto länger werden sie seine Tyrannei ertragen."

Die Autorin ist Nahost-Korrespondentin.

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