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Die Leiche redet

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Die Ägypter, die am frühen Nachmittag, nachdem sie eben erst den ruhigen Rechenschaftsbericht ihres Präsidenten Mohammed Anwar Es-Sadat anläßlich des 21. Jahrestages des Staatsstreiches von Gamal Abdel Nasser gelauscht hatten, die erregte Stimme des libyschen Diktators Gaddafi in den Rundfunklautsprechern hörten und sein verzerrtes Gesicht auf den Fernsehschirmen auftauchen sahen, wußten sofort, was es geschlagen hatte. Die ägyptische Propaganda, noch immer ungeübt im Umgang mit westlichen Massenmedien und ihren Vertretern an Ort und Stelle, bereitete den ägyptischen Föderations- und libyschen Unionsplänen ein Begräbnis erster Klasse. Und niemand anders durfte es ausrichten als die Leiche selbst.

Es ist denkwürdig und ungewöhnlich, daß sich ein ausländischer Staatschef unzensuriert und direkt an die Ägypter wenden durfte. Das wurde nicht einmal dem seligen Ni-kita Chruschtschow erlaubt, wohl aber zum zweitenmal in einem Monat dem libyschen Beduinenobristen Gaddafi. Die Kairoer Führung wußte offenkundig, was sie tat. Die Ägypter haben, obwohl sie ihrem unvergeßlichen „Rais“ und der rasch verwelkten Gloriole eines mächtigen Ägypten als Zentrum der panarabischen Einigungsbewegung noch immer nachtrauern, genug von kostspieligen und kräftezehrenden Abenteuern. Sie wollen nichts als ihre Ruhe.

In richtiger Einschätzung dieser Mentalität ließ Präsident Es-Sadat, dieses politische Naturtalent aus dem Nildelta, seinen libyschen Konkurrenten Gaddafi wütend gegen das politische System seines Landes belfern. Gaddafi wetterte ebenso wortreich wie ohnmächtig gegen die angebliche Korruption, die Vettern-und Mißwirtschaft am Nil und rief zum Kreuzzug für den Islam und zur „Volksrevolution“. So sehr er den hunderttausend schwachsinnigen Beduinen, wie man sie hier nennt, aus der libyschen Wüste damit aus der Seele gesprochen haben mochte, den Ägyptern rann bei solchen Sätzen nur der kalte Schweiß über den Rücken.

Am Nil erfreut man sich seit dem frühen Tod des „Rais“ heute des freiesten Regimes, das man jemals hatte. Jeder kann tun oder lassen, was er will, sofern er nur nicht die Kreise der Regierenden stört. Die Korruption wurde geringer, die Mißwirtschaft erträglicher als jemals zuvor. Was will die selbsternannte Nachgeburt des „Rais“, Gaddafi, eigentlich?

Die Ausfälle Gaddafis wirkten um so schlimmer, als sie unbestellt direkt nach der maßvollen Rede Präsident Es-Sadats erfolgten. Es-Sadat hatte zwar schwere Vorwürfe gegen die Amerikaner erhoben, die sich in ägyptischen Augen jeder Verpflichtung zur Schlichtung im Nahostkonflikt entziehen und stattdessen weiter ausschließlich Israel unterstützen. Doch jedermann der politisch ungewöhnlich wachen Ägypter weiß vom Watergate-Skandal und den Abhöraffären im Weißen Haus — und damit über die weltpolitische Manövrierunfähigkeit der USA. Es-Sadat hatte in seiner Rede auch keinen Zweifel gelassen darüber, daß die Sowjets ungeeignete Bundesgenossen seien, weil sie nicht genügend Waffen liefern. Er beharrte schließlich auf der gewaltsamen Rückgewinnung dessen, was gewaltsam genommen worden sei. Doch das „Wann“ ließ er offen. Die Botschaft, die er seinem Volk übermittelte, lautete schlicht: abwarten und Tee trinken.

Die ägyptisch-libyschen Beziehungen sind auf einem Tiefpunkt, und die Hoffnung auf das libysche öl hat sich nicht erfüllt. Doch, so sagen sich die Ägypter, muß man reich sein, um glücklich zu sein? Wir haben etwas, was keiner außer uns hat: Zeit.

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