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Die Zehn Gebote

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Das Plebiszit, durch das sich Präsident Mohammed Anwar es-Sadat die Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit der acht Millionen Wahlberechtigten von 33 Millionen Ägyptern zu seinem knapp 50sei-tigen sogenannten „Oktober-Dokument“ sicherte, verschaffte dem Nilland zum erstenmal in seiner modernen Geschichte eine langfristige politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Perspektive für das nächste Viertel Jahrhundert Die „Zehn Gebote“, über die das Nilvolk zu befinden hatte, sind Bilanz der ersten dreieinhalb Jahre des Regimes es-Sadat, Rechtfertigung des in ihnen vollzogenen innen- und außenpolitischen Kurswechsels und zugleich ein vielversprechender Wechsel auf die Zukunft.

Das Dokument, das der noch nicht ausgearbeiteten künftigen neuen Verfassung übergeordnet sein soll, fand erwartungsgemäß die Zustimmung einer erdrückenden Mehrheit des Wahlvolkes. Die Demokratie, die Präsident es-Sadat seinen Landsleuten versprochen und die er teilweise schon verwirklicht hat, schlug hierzulande erst zaghaft Wurzeln. Die den Ägyptern angeborene natürliche Liberalität überdeckt zwar inzwischen wieder die Furcht der nasseristischen Epoche. Die Opposition traut sich aber noch keineswegs, ihren Widerstand auf den Stimmzetteln sichtbar zu machen. Deshalb sagt das Abstimmungsergebnis recht wenig Verläßliches über die Stärke dieser Opposition. So sicher es ist, daß eine große Bevölkerungsmehrheit die auf Frieden, Entwicklung und Freiheit festgelegten Zukunftspläne des Staatschefs bejaht, so gewiß ist auch, daß es unter Studenten, Intellektuellen, Beamten und Offizieren massiven Widerstand gegen die innerpolitische Liberalisierung und die außenpolitische Hinwendung zum Westen gibt.

Die Volksabstimmung macht den Weg frei sowohl zu weiteren Verhandlungen mit Israel über die Räumung der restlichen besetzten ägyptischen Gebiete mit dem unausgesprochenen Ziel eines endgültigen Disengagements Kairos aus dem Nahostkonflikt, als auch zu einer neuen freiheitlicheren Verfassung samt weiteren innerpolitischen und vor allem wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen. Das Versprechen der Gewährleistung freier Meinungsäußerung und uneingeschränkter privatwirtschaftlicher Betätigung einschließlich der Aussicht auf die Restitutionalisierung widerrechtlich beschlagnahmter Privatvermögen, führte bereits zu einer regelrechten Remigrationswelle. Prominentester Rückkehrer ist der heute über siebzigjährige frühere Verleger der waf-distischen Tageszeitung ..el-Misri“ („Der Ägypter“), Achmed Abdul Fath. Mit seinem Bruder zusammen hatte er das Blatt 1938 gegründet und beim Staatsstreich von 1952 den ersten Präsidenten, General Mohammed Nagib, unterstützt. Der Sturz Na-gibs zwang ihn 1954 zur Flucht nach Frankreich, wo er sich publizistisch gegen den Nasserismus einsetzte. 1960 war er einer der Initiatoren einer antinasseristischen „Nationalen Front“ unter Einschluß der rechtskonservativen Moslem-Bruderschaft. Seine Rückkehr aus dem Exil ist das bisher aufsehenerregendste Signal für den endgültigen Bruch es-Sadats mit der Diktatur seines Vorgängers.

Die Versöhnung mit den Gegnern des Nasserismus und die nunmehr plebiszitär gebilligten „Zehn Gebote“ sollen nach dem Wunsch es-Sadats die, Basis bilden für die Vorbereitung der Ägypter auf die Zeitenwende des Jahres Zweitausend. Nach dem Oktoberkrieg mit seinem Brückenschlag über den Suezkanal folgt nun, durch ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen und Versprechen, der Brückenschlag in die Zukunft Eine Politik der offenen Türen nach innen und außen soll wirtschaftliche Zuwachsraten ermöglichen, die mindestens mit dem Bevölkerungszuwachs schritthalten. Die Staatswirtschaft soll konsolidiert und durch eine starke Privatwirtschaft einschließlich umfangreicher ausländischer Investitionen ergänzt werden, neben dem Wiederaufbau der seit dem Sechsta-gefeldzug zerstörten Städte und Dörfer erhalten Wissenschaft und Technik Priorität Die „Zehn Gebote“ verheißen den Ägyptern eine zukunftsfrohe und freie Heimat, dem Westen einen verläßlichen politischen und wirtschaftlichen Partner.

Das Plebiszit ist dazu freilich nur der erste Schritt. Sieht man einmal ab von der Gefahr einer neuen Verwicklung des Nillandes in den Nahostkonflikt, die noch keineswegs ganz ausgeschlossen werden kann, bleibt vor allem die Frage nach der Uberlebenschance des Regimes es-Sadats. Der Staatsstreichversuch vom 18. April hat gezeigt, daß die Opposition so leicht nicht aufgibt. In dem „Oktober-Dokument“ erläuterte der Präsident daher auch noch einmal ausführlich die Gründe für den außenpolitischen Kurswechsel. Der Sowjetunion wird falsches Spiel und den USA ein nahostpolitischer Kurswechsel bescheinigt. Schon vor dem Abstimmungstag war allerdings den meisten Ägyptern ohnehin klar, daß man von Moskau zwar Waffen, nur von Washington aber die unabdingbare Hilfe für eine bessere Zukunft bekommen kann. Ägypten nahm somit Abschied von einer achtzehnjährigen Diktatur. Deren Wiederkehr erzwingen könnte jetzt nur noch, wie schon einmal, eine machthungrige Offiziersclique. Nicht einmal Präsident es-Sadat weiß, ob sie nicht schon irgendwo im Verborgenen die Gewehre lädt.

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