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Wie im Pariser Mai

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Ägyptens Präsident Mohammed Anwar es-Sadat stößt auf Kritik von völlig unerwarteter Seite. Die Jugend des Nillandes fühlt sich bei der von höchster Stelle erlaubten und geförderten „Fraktionsbildung“ innerhalb der Einheitspartei „Arabische Sozia-

listische Union“ unzureichend vertreten.

Die Staatsführung erlaubt seit einiger Zeit die Bildung sogenannter „Plattformen“ verschiedener politischer Richtung innerhalb der „Arabischen Sozialistischen Union“. Bislang gab es vor allem drei solche Plattformen, die das Regierungszentrum und damit die Mitte, die liberale Rechte und die marxistische Linke vertreten. Wortführer der Linken sind der frühere Mitkämpfer Gamal abdel Nassers und der als „roter Kommodore“ bekannte Bruder des ehemaligen nasseristischen Geheimdienstchefs und Ministerpräsidenten Mohieddin, Zakarai Mohieddin, und der „Al-Achram“-Reporter und Chefredakteur der theoretischen marxistischen Monatszeitschrift „Et-Talia“ (,J3ie Avantgarde“), Lutfi el-Choli, der unter republikanischer Herrschaft stets seine Zeit zwischen ideologischem Einfluß auf die Regierungspolitik und dem Gefängnis teilen mußte.

An der Universität Kairo, an der keine geringere als Madame Dschicha es-Sadat gegenwärtig ihr bei der Heirat abgebrochenes Studium vollendet, wächst nun aber die Unruhe wegen mangelnder Berücksichtigung der Jugend bei der Bildung der „Plattformen“. Die Jugendlichen sind dabei durchaus keine in der Wolle gefärbten Marxisten. Sie revoltieren keineswegs grundsätzlich gegen die Westschwenkung ihres Landes. Eher könnte man sie als gemäßigt links gerichtete Nationalisten bezeichnen. Aber sie fühlen sich eben übergangen und kritisieren, daß die Staatsführung ihre politischen Intentionen pflegt, ohne die Jugend auch nur zu instruieren, geschweige denn zu befragen.

Auf dem Campus nennt man Präsident es-Sadat ungeniert einen poli-

tischen „Opa“, dem es „schnurzegal“ sei, was die nachfolgende Generation denke. Er mache Politik für kommende Geschlechter, ohne diese zu fragen, was sie eigentlich wollten. Er habe das Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion gelöst (Beifall),

er habe das Land wieder dem Westen angenähert (gedämpfter Beifall, vor allem wegen der lockenden Staatsstipendien in den westlichen Haupt- und Universitätsstädten), er kämpfe für die Besserstellung der Fellachenfamilien und, unter dem Einfluß seiner machtbewußten Gattin, für die Rechte der arabischen Frauen. Doch obwohl er selber vier Kinder habe, vergesse er dabei die Jugend.

An den ägyptischen Universitäten und unter den jugendlichen Arbeitern der Industriebetriebe, vor allem im Deltagebiet und in Oberägypten, entsteht gegenwärtig eine Bewegung, die es-Sadat nicht unterschätzen sollte. Studenten und Arbeiter sind unter dem Einfluß des alternden Tribuns Lufti el-Choli nicht mehr weit entfernt von einer Stimmung ähnlich jener des Pariser Mai des Jahres 1968. Die marxistische Ideologie bietet ihnen jene Geborgenheit, die ihnen das Regime nicht geben will öder kann. Noch reagieren die Jugendlichen ihren Protest vorwiegend dadurch ab, daß sie Blumengebinde am Grabmal des verstorbenen „Rais“ ablegen. Doch schon fordern sie gebieterisch die Bildung einer „Plattform“ für die „Avantgarde der Volkskräfte“, also für die Jugend. Es-Sadat kann es sich kaum leisten, diese Stimmung zu ignorieren. Weit über zwei Drittel der Bevölkerung ist unter einundzwanzig. Und die jungen Intellektuellen fanden unter seinem Regime mehr als unter dem seines antiintellektuellen Vorgängers Eingang in Polizei, Armee und Geheimdienst. Sie könnten durchaus eine Gefahr für ihn werden. Wer die schlampigen Vertreter der öffentlichen Ordnung unter dem toten „Rais“ kannte und die disziplinierten Vertreter der Staatsmacht unter es-Sadat kennt, macht sich darüber keine Illusionen.

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