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ADNAN MENDERES / DER DEMOKRAT, DER KEINER WAR

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„Was ich auch?“ stieß der Ministerpräsident erstaunt hervor, als er auf offener Landstraße von seinem Wagen heraus verhaftet wurde. Der Ruf kam nicht gekünstelt aus dem Mund des Sechzigjährigen, war aber für ihn bezeichnend, besonders für seine Geistesverfassung, die schon seit Monaten zu Spekulationen Anlaß gegeben hatte. Einige nannten ihnen einen Psychopathen, andere Diktator. Aber beide Begriffe können ungemein nuancenreich sein. Seit 1950 ist er Ministerpräsident gewesen. Die Demokratische Partei wurde damals nach der ersten wirklich freien Wahl des Landes von einer Massenbewegung, die der republikanischen Alleinherrschaft überdrüssig war, an die Macht gebracht. Menderes gab sich auf allen Linien liberal, öffnete die bis dahin verschlossenen Grenzen der Einfuhr und dem Kapital. Vier Jahre darauf machte er erneut das Rennen, und das stieg ihm zu Kopf. Nicht gleich. Er, der Grundbesitzer, umwarb nach wie vor die Bauernschaft, die drei Viertel der Bevölkerung ausmacht. Durch Heraufsetzung der Übernahmspreise für Agrarprodukte und den Straßenbau, der erstmals den Zugang zu den Märkten öffnete, verbesserte er ihre Lebenshaltung. Bis ins hinterste Dorf ließ er Moscheen bauen, förderte die islamische Kultausübung in den althergebrachten Formen. All das brachte eine breite Anhängerschaft.

Dann wurde er von der fixen Idee besessen (besonders als er 1959 einen Flugzeugabsturz überlebte), von der Vorsehung zu besonderen Dingen berufen zu sein. Man kennt ja Vorbilder. Er verstieg sich nun zu gewagten wirtschaftlichen Unternehmungen, die die Türkei an den Rand des Bankrotts brachten. Die Bauwut des Mächtigen hatte ihn befallen. Menderes pflegte von sich zu sagen: „Atatürk ist der Begründer der Türkei und ich bin ihr Erbauer.“ Die vier Milliarden US-Dollar zerrannen unter seinen Händen. In seiner Jugend hatte er die amerikanische Schule in lzmir besucht und Englisch mit amerikanischem Akzent sprechen gelernt. Das trug zu seinem Erfolg bei. Obwohl er nie die Rolle Amerikas als bereitwilligen Dukatenesel angezweifelt hatte, konnte er, genau wie Syngman Rhee, gewinnbringend auf die Nachbarschaft Rußlands verweisen, auf die einzigartige strategische Lage.

Menderes' rastlose Energie, die in seinem kleinen, athletischen Körper steckt, wai zusammen mit seinem weiten Landbesitz die hauptsächlichste Voraussetzung zu seiner Karriere gewesen. In seiner Jugend hatte er viel Sport betrieben. Nach dem Jurastudium bewirtschaftete er seinen Familienbesitz in Westanatolien, der als Mustergut gilt. 1930 ging er in die Politik. Vor den Massen imponierte er mit temperamentvoller Rednergabe, versuchte seinen Mangel an weltläufiger Bildung hinter einem dauernden Keep-smiling zu verbergen. An persönlicher Courage hat es ihm nie gefehlt. Ohne Polizeischutz etwa, schritt er am 5. Mai auf die Demonstranten zu, mischte sich unter die ihn umringenden Studenten und rief: „Was wollt ihr, was wollt ihr?“ Mitten im Gedränge teilte er Ohrfeigen aus. Sie riefen „Zurücktreten!“, aber niemand griff ihn tätlich an.

Seine alten Mitarbeiter zogen sich von ihm zurück, nur die Marionetten blieben. Die republikanische Opposition wurde unterdrückt, desgleichen alle freiheitlichen Regungen. Verleger und Redakteure wanderten ins Gefängnis oder erhielten Berufsverbot. Wirtschaftliche Schwierigkeiten kamen. Er verlor jedes Maß. Der Keim zum Staatsstreich wurde aber erst am 27. April 1960 gelegt. An diesem Tage erzwang Menderes vom türkischen Parlament ein Ermächtigungsgesetz das ihn künftig unter einstweiligem Verzieh: auf Neuwahlen zum Alleinherrscher erheben sollte. Tags darauf demonstrierten die Studenten. Die zweite Welle kam vom ganzen Lande: „Er hat Ismet-Pascha aus dem Parlament getrieben“, murrten die Türken. Gemeint war der Oppositionsführer lnönü. engster Mitarbeiter Atatürks, Held des Freiheitskampfes. Gleich einem Denkmal ist er Symbol für das Erbe von Kemal Atatürk, dem Vater der Türken, dessen Prinzipien zum Dogma erhoben wurden, unantastbar und jeder Diskussion entrückt. Die Ausschaltung Inönüs (er bekam den Namen nach einem Schlachtenort Im griechisch-türkischen Krieg verliehen, früher nannte er sich Ismet-Pascha) konnte nur ein Maßloser wagen. In diesem Augenblick war der Anstoß zu einer breiten Volksbewegung gegeben, die zum Staatsstreich durch die Armee führte. Menderes hat inzwischen auf einer Insel im Marmarameer unendlich viel Zeit zum Nachdenken,

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